'Wenn einer dumpfe Augen hat dann ist es schlecht um ihn bestellt. Der dessen Augen aber
leuchten hat die Nacht überwunden. Es ist als säße der helle Tag in seinem Herzen.' Der große
Roman vom Leidensweg des armenischen Volkes. Für das berühmte Werk über den Völkermord an den
Armeniern im Jahre 1915 erhielt Edgar Hilsenrath folgende Auszeichnungen: - Alfred-Döblin-Preis
(1989) - Lion-Feuchtwanger-Preis (2004) - Preis des Präsidenten der Republik Armenien (2006) -
Ehrendoktorwürde der Staatlichen Universität Eriwan (2006) 'Niemand kann dich hören Thovma
Khatisian' sagte der Märchenerzähler 'denn deine Rede ist stumm. Aber ich habe dich gehört.'
'Hast du auch seinen Schrei gehört - den Schrei des türkischen Ministerpräsidenten - als er
ins Bodenlose fiel?' 'Den hab ich auch gehört.' 'Ich habe den türkischen Ministerpräsidenten
noch einmal getroffen' sagte ich zum Märchenerzähler. 'Wann?' 'Vor einigen Sekunden.' 'Und
wo?' 'Im großen Sitzungssaal des Vereinten Völkergewissens. Es war während der üblichen
Vollversammlung. Er saß neben dem Regierungsvertreter unauffällig und abseits. Wie ich erfuhr
war er nicht mehr Ministerpräsident sondern Archivar beim Vereinten Völkergewissen offiziell
gewählt von allen vertretenen Nationen. Als er mich sah verließ er seinen Platz und ging
hinunter ins Archiv. Ich folgte ihm. - Ich suche die armenische Akte sagte ich. Es handelt
sich um einen Bericht über den vergessenen Völkermord. - Den vergessenen Völkermord? - Ja. -
Und wann soll der stattgefunden haben? - Im Jahre 1915. - Das ist schon sehr lange her. Wir
haben jetzt das Jahr 1988. - Ja sagte ich. - Sehen Sie sagte er. Und dann führte er mich zum
Aktenschrank. Er sagte: Unser Aktenschrank hat keine Schranktür. Es sind offene Regale für
jedermann zugänglich denn wir haben keine Geheimnisse. - Dann zeigen Sie mir wo ich die
armenische Akte finden kann. - Das geht leider nicht sagte er denn eine so alte Akte wie die
armenische ist längst verstaubt so sehr verstaubt daß sie unauffindbar geworden ist. - Dann
rufen Sie Ihre Putzfrau und veranlassen Sie daß die Akte entstaubt wird. - Das habe ich längst
getan sagte der Archivar aber das ist nicht so einfach. - Warum? - Weil die Putzfrauen des
Vereinten Völkergewissens alle asthmatisch sind und keine alten Akten entstauben wollen
besonders so alte wie die über den vergessenen Völkermord. Das würde eine Menge Staub
aufwirbeln und reizt zum Husten. - Ich sagte: Kann ich verstehen. - Das Vergessen soll man
nicht entstauben sagte der Archivar. Es ist zu gefährlich. Und nach diesen Worten war er
verschwunden. Später ging ich hinauf in den großen Sitzungssaal. Ich stand mehrmals aus dem
Publikum auf um den türkischen Redner zu unterbrechen aber die Ordnungshüter wiesen mich aus
dem Saal. Einmal gelang es mir wieder hineinzuschlüpfen. Ich stellte mich neben den
Generalsekretär und hielt eine zündende Rede. Ich erzählte von meinem Volk das die Türken
ausgelöscht hatten und die Vertreter aller Nationen hörten mir eine Zeitlang zu. Dann aber
begannen sie sich zu langweilen und einer nach dem anderen verließ den Sitzungssaal.
Schließlich blieb ich ganz allein.