Systemsprenger werden in der Psychologie Menschen genannt die sich mit ihrer einzigartigen
Persönlichkeit jeder Kategorisierung entziehen. Die Literatur ist voll von ihnen. Figuren die
sich gegen den Willen der Götter auflehnen sich nicht in eine vorgeschriebene Ordnung zwingen
lassen die gegen überholte Gesetze aufbegehren – ihre Gebiete sind nicht Weltpolitik Religion
oder Justiz ihre Waffen keine Schwerter: was sie ausmacht ist eine absolute und unumstößliche
Ablehnung althergebrachter Strukturen. Sie gehören zum Kern eines jeden Dramas – und Johann
Wolfgang von Goethe – der Dramatiker unter den deutschen Dramatikern – erschuf sie nicht nur
er war einer von ihnen. Zumindest ist das das Licht in den das neue Musical GOETHE! von Martin
Lingnau (Musik) Frank Ramond (Text) und Gil Mehmert (Buch) ihn rückt. Basierend auf dem
gleichnamigen Film aus dem Jahr 2010 ist Goethe hier ganz selbstverständlich der Popstar der
er heute in der Literaturgeschichte ist. Im viel studierten Sturm und Drang (der ja mit dem
persönlichen Sturm und Drang unseres Protagonisten einher ging) steht der Übergang von der
Vision zum Kunstwerk im Vordergrund. So werden Die Leiden des jungen Werther – die wie so
viele große Kunstwerke hoch biografisch sind – hier Handlung und Subjekt eines Musicals: Ein
junger Johann Wolfgang von Goethe (mit oe) verliebt sich in Charlotte Buff die allerdings
schon Johann Kestner versprochen ist. Es folgt eine Dreiecksbeziehung die – wild dramatisch
und romantisch – schlussendlich in einem Briefroman festgehalten wird. Und das im Musical des
einundzwanzigsten Jahrhunderts so wie in Deutschland 1774. Am Ende geht es auf der Bühne der
Bad Hersfelder Festspiele – wo GOETHE! 2020 Premiere feierte – also nicht nur darum einem
Ausnahmetalent zu huldigen sondern ganz grundsätzlich um den Austausch zwischen
historisch-persönlicher Wahrheit und der Dichtung selbst. Daraus ergibt sich eine Musik die
nicht historisch sondern – dem im Musiktheater sooft glorifizierten Pastiche abschwörend – ein
Crossover aus symphonischem Musical und Popkultur ist. Goethes dargestellter Werdegang seine
Siege und Niederlagen sind – trotz seines prominenten Namens – universell: Denn wird nicht
jeder Liebende ein Künstler empfindet in Versen Bildern und Melodien indem er seine Liebe in
Worte zu fassen sucht? Kunst hilft uns die großen Themen des Lebens zu verarbeiten: So ging es
dem jungen Werther und so geht es Philipp Büttner als Johann Goethe auf der Musical Bühne. Die
Brücke zwischen den beiden schafft hier die Musik – mit Melodien die unser und Reimen die in
Goethes Jahrhundert passen. Es entsteht eine historische Welt die zeitgemäß ist und nur im
Hier und Jetzt wirklich gefühlt werden kann. Tatsächlich hat GOETHE! kaum Dialoge: Es wird viel
gefühlt und somit viel gesungen – Beides Dinge die sich wunderbar mit einer Gesamtaufnahme
verewigen lassen. Live eingefangen erscheint GOETHE! – mit Philipp Büttner (Aladdin Das
Wunder von Bern) als Johann und Abla Alaoui (Miss Saigon Mamma Mia!) als Lotte auf Doppel-CD.