Anna Sommer hat sich für diese stumme und meisterhaft in Papierschnitten umgesetzte
Bilderzählung von der japanischen Glücksbringerfigur Daruma inspirieren lassen. Die Figur geht
auf einen buddhistischen Mönch zurück der neun Jahre ohne Unterbrechung meditiert haben soll
um Erleuchtung zu erlangen. Der Sage nach soll Daruma einmal während dieser Meditation
eingeschlafen sein. Als er aufwachte ärgerte er sich dermassen über diese Disziplinlosigkeit
dass er sich die Augenlider abschnitt. So hat der Daruma-Glücksbringer aus Pappmaché anstelle
der Augen zwei Leerstellen: Stellvertretend für einen Wunsch malt man erst ein Auge aus. Geht
der Wunsch in Erfüllung wird das zweite Auge ausgemalt und der Glücksbringer verbrannt.In
«Tinte» malt sich die Hauptfigur ein erstes Auge in ihr bis dahin blindes Gesicht. Bevor sie
allerdings zum Malen des zweiten Auges - der Erfüllung des Wunsches - ansetzen kann trinkt ein
Affe die verbleibende Tinte. Dies ist der Beginn der abenteuerlichen Suche nach Tinte und
Erfüllung. Viel wichtiger als der genaue Inhalt des Wunsches wird in Anna Sommers Erzählung die
Frage nach dem Stellenwert des Wunsches: So kann das Gefühl einen Wunsch zu haben manchmal
wichtiger sein als dessen Erfüllung wobei die Tinte metaphorisch für äussere Bestätigungen
aller Art stehen kann. Findet die Hauptfigur schliesslich Erfüllung in der Suche oder in einem
erfüllten Wunsch?«Das wachgeküsste Auge. Damals in den 90ern trauten wir unseren Augen nicht:
Anna Sommer liess Frauen in polaren Welten durch Kühlschränke ins Freie treten und es gab Damen
die sich ihren Geliebten in der Haut ihres Ehemanns näherten. Die Leser*innen nahmen es hin
ohne mit der Wimper zu zucken. Fasziniert und zusehends befreit von aller Scham sah mensch dem
Treiben zu. Doch wer sich fragte wer oder was diesen furchtlosen Blick der Künstlerin
wachgeküsst haben mochte musste sich ein Vierteljahrhundert gedulden - und wird vielleicht in
'Tinte' fündig.Resolut doch einäugig kommt sie daher die Dame in Anna Sommers neustem opus
magique das nur beinahe tragique endet. Denn - oh weh! - die Tusche die für ihr zweites Auge
vorgesehen war hat der Affe ausgetrunken. Und damit nimmt das Drama seinen Lauf. Doch wie
immer folgen bei Anna Sommer Verderben und Rettung nicht der üblichen Dramaturgie - und von der
rettenden Kapriole die 'Tinte' bereithält werden die Protagonistin (und ein neuer Blick auf
die Welt) wachgeküsst. Wir sind entzückt! Verraten sei: Für dieses Buch hat die Künstlerin kein
Tröpfchen Tusche vergossen.» Mark Welzel Publikationen Museum Rietberg und ehemals
Co-Verleger von Arrache Coeur