Was große Literatur ausmacht zeigt sich an den 'kleinen Dingen'. Werde sie zum Ausdrucks eines
inneren Lebensgefühls so wächst der Text unversehens über die Alltäglichkeit dessen hinaus
wovon er erzählt. «Boulevard des Philosophes» ist solch ein Wunder-Buch. Auch wenn es nichts
von einer spannenden Handlung hat gewinnen die kleinen Dinge und Erlebnisse die darin zur
Sprache kommen eine Intensität und Leuchtkraft dass man keinen Satz und Moment missenmöchte.
Georges Haldas blickt darin auf seine Kindheit und seinen verstorbenen Vater zurück - fürwahr
kein origineller Stoff doch wie er ihn zum Leben erweckt macht das Buch einzigartig. Mit wie
vielen Vätern wurde in der Literatur nicht schon 'abgerechnet'! Nichts davon in «Boulevard des
Philosophes» obwohl der Sohn allen Grund dazu hätte. Denn der Vater ist jähzornig
unberechenbar und bisweilen voll von Hass. Er stammt aus Griechenland ist eigentlich gebildet
belesen und begabt mit einem Sinn für Höheres - doch gescheitert in allen Plänen und Träumen.
Statt seiner soll der Sohn in der Schule und im Leben Erfolg erringen aber der Ehrgeiz des
Vaters untergräbt die Entwicklung des Kindes mehr als dass er sie fördert. Und doch blickt
Haldas ohne Ressentiment auf den Vater zurück. In tiefer Ehrlichkeit versucht er ihn zu
ergründen und ihm Gerechtigkeit wider fahren zu lassen. Er tut dies indem er kleine Erlebnisse
wieder wach ruft: gemeinsame Abendspaziergänge auf Kephalonia die Besuche der samstäglichen
Fußballspiele in Genf Ausflüge auf den Bahnhof nach der Büroarbeit des Vaters. Er beginnt die
Angefochtenheit des Fremden zu begreifen der von den Einheimischen ausgeschlossen wird wie es
dem Kind auch selbst widerfährt. Immer wieder reflektiert Haldas dabei die Unsicherheit der
Erinnerung oft spricht er auch den Leser an bittet ihn sogar um Verzeihung dass die Suche
nach den «Unterwasserstömungen» des Lebens nicht zu leichtfasslichen Ergebnissen führe.
Geschrieben ist all dies in einer Sprache in der sich subtilste Präzision mit großer
Musikalität verbindet - bewunderungswürdig und meisterhaft übersetzt von Elisabeth Dütsch. Bei
aller gebotenen Zurückhaltung die auf diesen Blättern sonst geübt wird darf und mussgesagt
sein: Dies ist ein Werk von weltliterarischem Rang das noch auf seine Entdeckung und
angemessene Würdigung wartet.