Seit einer viel diskutierten Entscheidung aus dem Jahr 2013 überprüft die Cour de cassation die
Verhältnismäßigkeit von Gesetzesanwendungen in Einzelfällen. Was aus Sicht der deutschen
Rechtswissenschaft nicht ungewöhnlich scheint stellte in der französischen Rechtsprechung ein
Novum dar und ist Ausdruck der dynamischen Entwicklung sowie des Bedeutungszuwachses der
Gerichte in der V. Republik. Die Einführung dieses Kontrollmechanismus macht Sollbruchstellen
des Institutionen- und Gerichtsgefüges sichtbar: In der Diskussion über die konkrete
Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die obersten Gerichte kulminieren schwelende Konflikte über
die Stellung und Aufgabe von Richtern und Gerichten sowie die überformende Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Isabelle Neise erschließt nicht nur diese
Grundsatzprobleme des französischen Rechtssystems - sie zieht zudem Vergleiche mit der
deutschen Diskussion über die Verhältnismäßigkeitsprüfung von gebundenen
Verwaltungsentscheidungen.