Ungeachtet einer seit dem 19. Jahrhundert nachwirkenden Selbstbeschreibung als unabhängig oder
überparteilich' steht die Wahrheitssuche der modernen Geschichtswissenschaft in einem
Spannungsverhältnis zur politischen Relevanz der Historie. Im europäischen Mittelalter erfolgte
Geschichtsschreibung zwar nicht im Rahmen einer akademischen Wissenschaft doch lässt sich auch
hier ein Spannungsfeld zwischen einer auf historische Wahrheit' zielenden operativen
Selbstreferenz der Historiographie und einer politischen Funktionalisierung der Geschichte
konstatieren. Geschichte als Argument' konnte in Deutungskämpfen dazu dienen Evidenz für die
jeweils eigene Position zu generieren. In anderen Zusammenhängen diente der Rekurs auf die
Geschichte zur Legitimierung von Herrschaftsansprüchen sowie zur Profilierung politischer
Identitäten. Die dabei verfolgten narrativen Strategien verfuhren mitunter in höchst kreativer
Weise indem verschiedene Traditionsbestände adaptiert und neuartig aufeinander bezogen wurden.
Gleichzeitig waren die soziokulturellen und epistemischen Bedingungen dieser Praxis lokal und
situativ mitunter sehr verschieden. In einigen Regionen Europas führte dies zu spezifischen
Formen kultureller Hybridisierung. Unter Rekurs auf neuere praxistheoretische und
wissenssoziologische Theoriekonzepte analysieren die Beiträge diese narrativen Verfahren im
Spannungsfeld von Routinen' und Strategien'. Zudem hat der Band das Anliegen die (regionale)
Diversität dieser Aneignungen der Geschichte zu untersuchen. Durch die vergleichende
Perspektive sollen Einblicke in die lokale Spezifik und Vielfalt narrativer Evidenzproduktion
im europäischen Mittelalter gewonnen werden.