Verfassungen sind mit der Vorstellung besonderer Festigkeit und Stetigkeit verbunden. Dennoch
sind auch sie auf die Wirklichkeit bezogen. Dabei zeigt sich immer wieder daß die Wirklichkeit
der Verfassungen eine besonders hohe Eigendynamik aufweist. Die Folge ist daß sich das
Verfassungsrecht fortentwickelt. Am Beispiel der Kabinettsbildung in der Weimarer Republik wird
ein derartiger Prozeß der Verfassungsentwicklung nachgezeichnet. Die Mehrheit der
Nationalversammlung setzte in bewußter Abkehr von der konstitutionellen Regierungsweise des
Kaiserreichs das parlamentarische Regierungssystem in den Verfassungsberatungen durch. Die
Praxis der Regierungsbildung entfernte sich im Laufe der Weimarer Republik von den Vorgaben der
Verfassung. Am Ende der Entwicklung entschied nicht mehr das Parlament über die Zusammensetzung
der Regierung sondern unter seiner bewußten Ausschaltung setzte das Staatsoberhaupt wie im
Kaiserreich ein Kabinett seines Vertrauens ein. Hervorgerufen und begünstigt wurde diese
Entwicklung von zahlreichen nichtrechtlichen Phänomenen aus den gesellschaftlichen Dimensionen
Herrschaft Ökonomie und Kultur.