Die soziale Frage war für den Berner Pfarrer Albert Bitzius besser bekannt als der
Schriftsteller Jeremias Gotthelf (1797-1854) Teil eines tiefgreifenden religiösen Problems. Er
war überzeugt dass die Not von einer Gesellschaft erzeugt wurde die sich nicht mehr auf
christliche Grundsätze berief. Im Unterschied zu anderen kirchlichen Bestrebungen ging es ihm
aber nicht um die Rechristianisierung der vermeintlich moralisch und sittlich verkommenen Armen
und die Restauration der Sozialordnung. Vielmehr stand er in engem Kontakt mit der neuen
Reformpädagogik und beeinflusste mit seinem Heim für Verdingkinder auch Friedrich Fröbel den
Begründer des Kindergartens. Die fortschrittsgläubigen Radikalliberalen welche die Lösung der
sozialen Probleme in einem zentralisierten wertneutralen und religiös indifferenten Staat
sahen erkannten dies nicht und sahen in ihm nur den konservativen Reaktionär und
Heimatdichter. Lukas Künzler schlägt in seiner Analyse von Die Armennoth und Käthi die
Großmutter eine andere Lesart der sozialethischen Schriften Gotthelfs vor und zeigt dass
dieser in seinem Werk unmittelbarer auf die epochalen Herausforderungen seiner Zeit reagierte
als bislang angenommen. Die durch Armut und Hunger bewirkte Gärung in den Unterschichten
reflektierte er ebenso deutlich wie die frühsozialistischen Theoretiker die in der
revolutionären Umwälzung aller politisch-ökonomischen Verhältnisse den Weg zu gerechten
sozialen Zuständen sahen. Gerade in unserer Zeit die mit der Migration und dem Klimawandel
wieder vor der Wertefrage steht gewinnt Gotthelfs Werk neue Bedeutung und Aktualität.