Ovids Liebes- und Verbannungsgedichte werden häufig als Werke betrachtet die sein eigenes Ich
seine Erlebnisse und Erfahrungen fiktionalisieren und ihnen dadurch einen romanhaften Charakter
verleihen. Doch trifft dies wirklich zu? Walter Kißel setzt sich in seiner pointierten
Neubetrachtung intensiv mit dieser Forschungsthese auseinander und plädiert dafür Ovid weniger
schöpferische Phantasie zuzuschreiben als ihm bisher zugestanden wurde. Statt eines Dichters
der sich in Fiktionen verliert tritt Ovid hier als Autor hervor der gezielt die Empathie
seiner Leser anspricht und sie auffordert das Gelesene ernst zu nehmen und als wahr zu
betrachten. In den Amores untersucht Kißel die Identität des Sprecher-Ichs die Realität der
verehrten Corinna und die Bedeutung von Merkmalen die oft als Signale für Fiktionalität
gedeutet werden. In den Tristia und Epistulae ex Ponto richtet sich sein Augenmerk auf die
innere Stimmigkeit der Aussagen und ihre Vereinbarkeit mit anderen Quellen. Durch eingehende
Auswertung der Texte und der einschlägigen Literatur gelingt es ihm überzeugende Ergebnisse
vorzulegen die eine Neubewertung von Ovids Persönlichkeitsdichtung ermöglichen.