Die Psychiatrie gehörte einmal zu den prominentesten Zielen soziologischer Kritik: Die
Subjektivierung und Verkörperlichung von Interaktionsproblemen als objektive Krankheitszustände
konnte aus soziologischer Perspektive lange nur als simplistische Verkürzung komplexer sozialer
Prozesse auffallen. Diese Kritik ist seit den achtziger Jahren eingeschlafen: Einerseits
erlebte die Kritische Thematisierung auf der sie stand einen Niedergang andererseits
solidifizierte sich die somatische Psychiatrie zunehmend. Vor allem im Kernland der
psychiatrischen Selbstverständlichkeit den Vereinigten Staaten bröckelt diese Solidität.
Nicht nur hat eine wiedererwachende Soziologie neue Popularität gewonnen und eine Reihe neuer
Klassiker produziert die Medikalisierung als pragmatischen Prozess der Zuschreibung von
Krankheitsrollen untersucht ohne mit dieser Thematisierung weiter weitläufige
Herrschaftskritik zu verbinden. Seit Mitte der neunziger Jahre sind zudem zunehmend kritische
Stellungnahmen innerhalb der Psychiatrie aufgekommen die von den angeblichen
wissenschaftlichen Nachweisen somatischer Krankheitszustände ihren gehirn- und
hormonzentrierten Ätiologien und dem Sinn der medikamentzentrierten Reaktionen auf sie nicht
mehr überzeugt sind. Der vorliegende Band greift mit Originalbeiträgen nordamerikanischer
britischer und israelischer AutorInnen diese etablierte Herausforderung
somatisch-psychiatrischer Selbstverständlichkeiten auf. Sie verbindet diese mit
deutschsprachigen Originalbeiträgen in denen Krankheitszuschreibungen wieder soziologisch als
Elemente in komplexen Prozessen der Aushandlung sozialer Realität verstanden werden. Damit
sucht sie einen neuerlichen Ausweg aus der vereinfachenden aber auch vor allem im Alltag weit
verbreiteten Position es handele sich um die Erkenntnis von wahrer Krankheit. ?