Der evangelische Glaube soll sich im Alltag der Welt bewähren. Luther hat in Abgrenzung zu
jedem monastischen Ideal - so das klassische Urteil Wilhelm Diltheys - ein menschlich volles
Ideal proklamiert welches die ganze menschliche Lebendigkeit in das religiöse Verhältnis
aufnimmt und in ihm zur christlichen Vollkommenheit erhebt. Obwohl Luthers Wirkung sowohl auf
die individuelle Lebensführung als auch auf die gesellschaftlichen Ordnungen unbestritten ist
kommt ihm für die protestantische Ethik eine eher geringe Bedeutung zu. Seit der
Reformationszeit warf man ihm immer wieder vor dass seine Theologie letztlich die Ethik
überflüssig mache. Luther habe das Gewicht so sehr auf den Glauben gelegt dass alle Werke und
Leistungen des Menschen ohne Bedeutung zu sein scheinen. Demgegenüber zeigt dieser Band dass
sich die Grundstrukturen die Umrisse und die Arbeitsweise seiner Ethik deutlich konturieren
und exemplarisch auf heutige ethische Diskurse anwenden lassen. Luther war Schrifttheologe in
dezidiertem Sinn. Daher begleitet die angemessene Rezeption und theologische Verarbeitung
biblischer Normen sowie die Auseinandersetzung mit ihrer missbräuchlichen Verwendung die
theologische Entfaltung seiner normativen Begründungen. Ethik ist insofern stets Teil einer
Hermeneutik der biblischen Orientierungen. Sie lässt sich nicht in ein Schema von Prinzipien
fassen. Luthers Ethik ist vielmehr als eine inventionale Ethik zu verstehen die aus ihrem
religiösen Selbstverständnis heraus schöpferisch mit vorgegebenen Normen umgeht wie auch neue
Normen entwickelt.