Edgar Morins sozio-anthropologischer Essay Le cinéma ou l`homme imaginaire von 1956 wurde seit
seinem Erscheinen nur vergleichsweise sporadisch rezipiert - Morin selbst bezeichnet es später
als marginal innerhalb seines Gesamtwerks. Dennoch wird Morins Abhandlung in den
filmtheoretischen und filmtheoriegeschichtlichen Kontexten in denen sie aufgegriffen und
diskutiert wird durchweg positiv und als zentral relevant für die Geschichte der Filmtheorie
bewertet. Über diese widersprüchliche Rezeptionslage hinaus herrscht eklatante Uneinigkeit über
die theoriegeschichtliche Positionierung von Morins Essay: So ordnen sowohl Vertreter
semiologischer als auch Anhänger phänomenologischer Positionen Le cinéma ou l`homme imaginaire
der Vorgeschichte ihrer jeweiligen Ansätze zu. Und auch andere theoriegeschichtliche
Darstellungen lassen kein Gesamtkonzept von Morins Buch erkennen es erscheint mithin als ein
methodisch-disziplinär beliebig einzuordnendes Collagenwerk. Um den Aporien solcher
Einordnungsversuche zu entgehen bietet Philip Dreher in seiner vorliegenden Untersuchung über
die Analyse der konzeptuellen Metapher des Films als Spiegel eine neue Lesart von Morins Essay
an. Mit dem ordnenden und erläuternden Nachvollziehen der bezugsreichen Ausführungen des Essays
wird deutlich weshalb Morin den Film als einen anthropologischen Spiegel versteht und
inwiefern diese Metapher paradigmatisch für seine Filmtheorie ist. Mit Hilfe der Metapher des
Spiegels kann Le cinéma ou l`homme imaginaire so innerhalb der französischen
Filmtheoriegeschichte historisch-systematisch zwischen klassischen und modernen Filmtheorien
positioniert werden zwischen André Bazin und Christian Metz. Durch den Vergleich mit diesen
beiden Autoren wird Morins spezifische Art über den Film nachzudenken herausgearbeitet.