Den hier vorliegenden Essay über die Zeicheninstallationen des chinesischen Künstlers Xu Bing
habe ich nicht als Sinologe mit den damit verbundenen Ambitionen geschrieben sondern ausgehend
von bestimmten Positionen der Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst und Literatur. Das
erste Mal begegnete ich seinem Werk auf einer Ausstellung in Berlin im Jahr 2004 als ich
bereits drei Jahre in China tätig war. Ich bin damals in dieses Land gekommen ohne die Sprache
zu verstehen und ohne die Zeichen lesen zu können womit sich für mich die besondere Erfahrung
eines 'sekundären' Analphabetismus und zugleich einer anfangs völligen 'Sprach(en)losigkeit'
verband die ich jedoch mit Hilfe meiner Muttersprache und der theoretischen Begriffe die mir
aus anderen Kontexten vertraut waren reflektieren konnte. Was damals ganz besonders mein
Interesse weckte war dass Xu Bings Zeicheninstallationen genau mit dieser Erfahrung spielen.
Zum einen zeigen sie dass jeder auch derjenige der glaubt die vertraut erscheinenden
Zeichen ohne Weiteres lesen zu können in Wahrheit 'illiterat' sein kann zum anderen lassen
sie uns als Aha-Erlebnis Zeichen entziffern von denen wir auf den ersten Blick überhaupt nicht
geglaubt hätten dass wir sie je verstehen könnten. Auf diese Weise inszenieren sie zunächst
eine 'Befreiung' vom Sinn (wie in den Büchern des Himmels) und konfrontieren uns mit der Leere
des Nichtsinns um uns dann das Hereinbrechen des Sinns vor Augen zu führen (in der Square Word
Calligraphy) wenn nämlich Zeichen plötzlich lesbar werden sobald man die Ausgangsbedingungen
unter denen man sie betrachtet verändert. Meine langjährige Beschäftigung mit China und seiner
Kultur wurde seitdem immer auch von den Kunstwerken Xu Bings begleitet woraus sich ein ganz
besonderer Bezug zu ihnen herstellte der sich über die Jahre in einer Reihe von Beiträgen die
sich mit verschiedenen Installationsprojekten und Kunstwerken beschäftigten niederschlug. (Aus
dem Vorwort)