Er war nach antiken Vorstellungen fast ein Greis als er 14 n. Chr. als zweiter Kaiser Roms den
Thron bestieg: Tiberius Claudius Nero. Seine überaus ehrgeizige Mutter Livia Drusilla hatte ihm
den Weg dorthin freigemordet. Nach anfänglich milder Herrschaft zog sich Tiberius zu Schwermut
neigend misstrauisch und finster für seine letzten Lebensjahre auf die Insel Capri zurück. Er
überließ die Regierungsgeschäfte dem Prätorianerpräfekten Seianus einem skrupellosen Mann der
in Rom eine beispiellose Schreckensherrschaft errichtete. Gerade noch rechtzeitig wurde er vom
Kaiser entmachtet und wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Doch Tiberius' Weigerung nach Rom
zurückzukehren ließ bald die wildesten Gerüchte über die Grausamkeit und die sexuelle
Abartigkeit des alten Mannes aufkommen. Biberius nannten ihn die Römer den Trinker. Und als er
gestorben war (37 n. Chr.) forderte das aufgebrachte Volk seine Leiche im Tiber zu versenken.
In den Annalen zeichnet der römische Historiker Tacitus ein düsteres Bild des Kaisers. Doch
mancher Nachfolger sah in ihm den gerechten Herrscher schlechthin und erkor ihn zum Vorbild der
eigenen Regentschaft. Mit der gebotenen Behutsamkeit des neuzeitlichen Forschers nähert sich
Ute Schall der komplexen Persönlichkeit des Menschen und des Kaisers wobei sie in erster Linie
die alten Quellen vergleichend heranzieht.