Nachwort von Ralf-Rainer Rygulla (2025) Anfang: Grenzüberschreitungen waren nicht zu
vermeiden in der bewegungsarmen Enge Westdeutschlands der 60er Jahre. Mode Frisur Sexualität
Drogen Politik alles war geprägt von einem schwarz-weißen bleiernen Konsens und die
Literatur mit überkommenen ästhetischen Regeln befangen in einer halbherzigen und moralisch
starren Vergangenheitsbewältigung. Rolf Dieter Brinkmann lernte ich im April 1960 kennen. Wir
kamen beide aus der Provinz. Ich war 16 Jahre alt literaturbegeistert Lyrik-Leser und
(heimlicher) -Verfasser. Rolf Dieter war 20 und Dichter - ohne den geringsten Selbstzweifel ein
Dichter und diese Identität bestimmte seinen Alltag forderte seine Freunde Bekannten und
durchdrang jeden Aspekt jeden Umstand seines Lebens. Es begann eine intensive und von Beginn
an schonungslose Freundschaft. Zufallzwangsläufig? Wir waren nicht nur Lehrlinge in derselben
Essener Buchhandlung wir wohnten auch im selben Wohnheim für Krupp- und Thyssen-Lehrlinge.
19-jährig zog ich im Juni 1963 mit Erlaubnis des Kreiswehrersatzamtes nach London. Dort jobbte
ich bei Foyles der "größten Buchhandlung der Welt" so die Eigenwerbung. Schräg gegenüber auf
der Charing Cross Road befand sich 'Better Books' ein kleiner Buchladen der eine Kooperation
mit Lawrence Ferlinghettis City Lights Bookshop in San Francisco pflegte. Er wurde in den
nächsten Jahren neben Barry Miles' Indica Bookshop zu einer Fundgrube für neue mir bis dahin
unbekannte literarische Töne und Formen. Die Publikationen Bücher Drucksachen Hefte
getackerten Broschüren die 'little mags' aus den USA sprengten bereits durch Form und
Aufmachung alle mir vertrauten Konventionen. Von einer anderen überraschend parallelen
Zufallzwangsläufigkeit lese ich in Michael Krügers im Jahr 2023 erschienenen Erinnerungen
Verabredung mit Dichtern. Er begann seinen London-Aufenthalt ein Jahr früher als ich 1962 bis
1965. Allerdings landete er am anderen Ende des Regenbogens - als Buchhändler im Luxuskaufhaus
Harrods. Deren Buchabteilung belieferte das Königshaus sie war ein Treffpunkt der Londoner
Literatur-Elite und dort lernte er sie kennen: Elias Canetti Erich Fried Norbert Elias
Marion Boyars Großverleger Lord Weidenfeld und so fort. Als Avantgarde nahm Krüger der
spätere Hanser-Verleger Dichter und Akademiepräsident das englische "Sozialtheater" der
Autoren Harold Pinter Arnold Wesker oder David Rudkin wahr. In den Jahren 1967 bis 1969
erschienen die drei Anthologien 'Fuck You' und 'Acid' und 'Silverscreen'. Sie landeten als
Fremdkörper in der westdeutschen Hochkultur. Aber sie entpuppten sich sofort als überfällig.
Die Resonanz war überwältigend. Es schien als hätte die damalige Gegenwartsliteratur nur
darauf gewartet. Zu Acid gab es begeisterte Besprechungen nachdem noch über den schmalen Band
'Fuck You - Underground Gedichte' gelästert worden war. Hans Paeschke von der Zeitschrift
'Merkur' wendete sich ab "weil man sowas doch nur im masturbatorischen Pubertätsalter
ernstnehmen kann". Helmut Heißenbüttel interessierten die "voraussetzungslosen fuck-Apologeten"
nicht. Beide hatten die Botschaft der von mir herausgegebenen Textsammlung wohl verstanden
waren aber nicht in der Lage von ihrem gewohnten akademischen Hochsitz in die Niederungen des
Alltäglichen runterzuschauen. Und Tabuverletzungen sind anstrengend man muss Position
beziehen. ...