Mit der Durchsetzung der Schulpflicht seit Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich
europäische Staaten zu literaten Gesellschaften. Die Möglichkeit der sozialen Partizipation
wird seither in zunehmendem Maße durch schriftsprachige Praktiken bestimmt.Constanze Weth
analysiert in ihrer Studie schulische und familiäre Strukturen in deren Kontext der
Schriftspracherwerb von sprachlichen Minderheiten eines Landes erfolgt. Am Beispiel Frankreichs
untersucht sie parallel zu der 'neuen' marokkanischen Minderheit die Strukturbedingungen der
'alten' okzitanischen Minderheit für den Schriftspracherwerb. Der Bezug der beiden
Sprechergruppen zu den jeweils ausgeübten Sprachen (Französisch und Arabisch bzw. Okzitanisch)
ist grundverschieden. Beide Gruppen unterscheiden sich zudem darin wie sie sprachlich
integriert sind: Die Sprecher des Okzitanischen sind am nationalen Herstellungsprozess
Frankreichs beteiligt gewesen. Damit einher ging die territoriale Begrenztheit der regionalen
Minderheitensprache und deren zunehmende kommunikative Beschränkung auf das familiäre Register.
Sie prägten den Topos der Bewahrung einer Minderheitensprache gegenüber der 'dominanten'
Sprache. Migration hingegen ist ohne Veränderung nicht denkbar. Die Sprecher des Marokkanischen
sind nach Frankreich zugewandert. Ihre Niederlassung ist verbunden mit Erfahrungen einer anders
organisierten Kommunikation und einer unbekannten strukturell verschiedenen Sprache. Weth
zeigt die sozialen Rahmenbedingungen auf unter denen die Sprachen gesprochen und geschrieben
werden. Sie nähert sich dem Begriff der sprachlichen Minderheit und der allgemeinen Situation
von Okzitanen und Marokkanern in der südfranzösischen Stadt Nîmes zunächst in
sozialhistorischer Perspektive an. Anschließend beleuchtet sie in einer ethnographischen
Untersuchung die familiären und schulischen Schriftpraktiken beider Gruppen insbesondere deren
Umgang mit Mehrsprachigkeit und Schriftsprache. Schließlich nimmt sie die sprachlichen
Ressourcen selbst in den Blick: Eine Orthographieanalyse von Kinderschreibungen zeigt wie
mehrsprachig okzitanisch-französisch und marokkanisch-französisch aufwachsende Schulkinder ihre
sprachlichen Mittel nutzen um zu schreiben. Diese Schreibungen spiegeln wider wie sich die
Kinder ihrer sprachlichen Ressourcen bedienen um die familiären und schulischen Anforderungen
an Schriftsprache zu erfüllen.