Goethes Faust ist fraglos das schwierigste weil komplexeste Werk der Literatur in der uns
bekannten Geschichte der Weltliteraturen. Dies ist ein Grund dafür dass sich die Germanistik
auch Goetheforschung und Theaterrezeption in ihrer gesamten Geschichte schwer mit ihm getan
haben So war die Auffassung des Goetheschen Titelhelden bis weit in das vorige Jahrhundert
hinein weitgehend positiv bestimmt: Faust war der große Held als liebender Mann und
Grenzüberschreiter als Übermensch einer neuen Kultur seine Opfer unvermeidlich für den
Aufstieg des Helden. Um die Mitte des Jahrhunderts dann setzte eine Gegenbewegung ein. Jetzt
wurde er gesehen als Verführer und Verbrecher als Inbild des Bourgeois und global player einer
nur noch negativ gezeichneten Moderne'. Von wenigen Einsprüchen abgesehen ist das Bild des
positiven' Faust der negativen' Deutung gewichen. Es ist dies eine Auffassung die weit über
den akademischen Bereich hinaus reicht und das Faust-Bild von Feuilleton und Theater wie der
interessierten Öffentlichkeit im hohen Maße prägt. Angesichts einer solchen
Interpretationsgeschichte liegt es nahe hier von Aporien der Rezeption zu sprechen die die
gewohnte Vieldeutigkeit klassischer Texte weit übertreffen. Genau an diesem Punkt setzt die
hier vorgelegte Untersuchung ein. Sie geht von der Einsicht aus dass die Aporien der
bisherigen Rezeption den Text in seinem Grundcharakter verfehlen. Dieser ist auf allen Ebenen
durch Widerspruchsstrukturen bestimmt eine im philologischen Sinn fundamentale Tatsache die
von der bisherigen Rezeption nur selten erkannt und nie konsequent verfolgt wurde. Der positive
Faust der Vergangenheit und der negative Faust der Gegenwart sind das Resultat mangelnder
Erkenntnis der fundamentalen Verfassung dieser Dichtung. So wurde nicht erkannt dass der
Widerspruch für diese Dichtung ästhetisch konstitutiv ist der Widerspruch nicht im
logisch-analytischen sondern im dialektischen Sinn. Goethe unserer Überzeugung nach ist der
größte Dialektiker unter Deutschlands Dichtern. Er ist für die Dichtung was Hegel für die
Philosophie ist er ist es ohne Hegelianer zu sein. Dies zu zeigen und einige Folgerungen
daraus zu ziehen ist Absicht dieser Schrift. Sie versteht sich nicht als abschließendes Wort
sondern als Eröffnung einer neuen Fragestellung.