Die Protagonistin Nina vierzig Jahre alt und russischsprachige Ukrainerin sieht sich
gezwungen ihren kranken Mann und ihre achtzehnjährige Tochter in Kiew zurückzulassen um in
Italien Arbeit zu suchen. In der kleinen Universitätsstadt Macerata in der Region Marken
betreut sie eine alte Dame namens Mariangela und verbringt ihre freien Stunden in der
Bibliothek des Instituts für Slawistik wo sie ihre Leidenschaft für Tschechows Erzählungen
wiederentdeckt. Mit dem Russischprofessor Giulio De Felice den sie in der Bibliothek
kennenlernt entwickelt sich eine intellektuelle von gegenseitigem Respekt getragene Beziehung
die nie die Schwelle des Begehrens überschreitet. Durch ihn erhält Nina einen Einjahresvertrag
als Dozentin für russische Literatur an der örtlichen Universität. Diese Arbeit leistet sie
fortan zusätzlich zu ihrer Anstellung als Altenpflegerin. Der erste Teil des Romans spielt in
Macerata in Ninas Worten ein sehr schwieriges Jahr für mich und meine Tochter während dessen
ich aber doch auch glücklich gewesen bin glücklich jedenfalls auf eine der einfachsten und
kurzlebigsten Arten auf die man es sein kann nämlich durch die Verherrlichung meiner selbst.
Die rasche Verschlechterung des Gesundheitszustands ihres Mannes und sein plötzlicher Tod
zwingen sie nach Kiew zurückzukehren die Beziehung zu ihrer Tochter jedoch die ihr
unverblümt den Vorwurf macht nicht rechtzeitig am Sterbebett ihres Vaters eingetroffen zu sein
erleidet einen unheilbaren Riss. Der zweite Teil des Romans zeigt Ninas Leben acht Jahre später
nach ihrer überstürzten Rückkehr ist sie in Kiew geblieben und arbeitet mittlerweile am
dortigen Institut für russische Sprache und Kultur. Um an einer Konferenz über Tschechow
teilzunehmen reist sie ein zweites Mal nach Macerata. Dieser kurze Aufenthalt in Italien nimmt
jedoch eine unvorhergesehene Wendung. La lettrice di Cechov ist ein maßvoller Roman: das
betrifft sowohl die Sprache als auch die Handlung. Es ist das psychologische Porträt einer
Mutter die gezwungen ist ihre Familie zu verlassen um ihrer Tochter ein Universitätsstudium
zu ermöglichen einer gebildeten Frau die sich zugunsten ihrer Liebsten für eine einfache und
mühevolle Tätigkeit nicht zu schade ist. Dieses Schicksal teilt Nina mit zahlreichen in Italien
lebenden Ausländerinnen die teilweise unter illegalen Bedingungen arbeiten was dem Roman eine
traurige Aktualität verleiht. Die Erzählung ist jedoch nicht als Sozialstudie angelegt im
Gegenteil. Giulia Corsalini erschafft eine Figur ganz im Stile Tschechows die in verhaltenem
Ton über die eigenen Erfolge wie auch Verluste reflektiert Ninas nicht ungewöhnliche nahezu
alltägliche Geschichte wird auf gedämpfte oft melancholisch anmutende Weise erzählt. Der
übersetzerische Anspruch von Corsalinis Werk ist einerseits durch das gehobene literarische
Niveau des Romans gegeben das bereits verschiedenste Literaturauszeichnungen in Italien
erhalten hat andererseits durch die bewusste Anlehnung von Sprache und Tonalität an Tschechows
Erzählungen was übersetzungstechnisch eine besondere aber auch spannende Hürde darstellt.