Vorwort Der Mensch ist aus krummem Holz gemacht meinte Immanuel Kant und setzte dem den
aufrechten Gang entgegen. Kant kannte Krummholz gut von dem Treibholz her das nach der
Sturmflut an die Strände der Ostsee geschwemmt wird. Aus krummem Holz so sah es auch der
Schöpfungsmythos der Germanen sei der Mensch geschnitzt: Ask der Mann aus Eschenholz Embla
die Frau aus der Ulme - besonders aus Schwemmholz das man am Ufer fand. Ströme Gezeiten
schwemmen es mit dem Schmelzwasser oder der Flut an. Treibholz ist nach langer Fahrt besonders
hart und hat wenn es trocknet eine knorrige eben krumme Gestalt. In der Hand fühlt es sich
ganz anders an als der vom Wasser geschliffene Kiesel nicht glatt und gerundet sondern uneben
und verquer. Holz zeigt Strukturen eines Eigenwuchses die man auch bei der Bearbeitung und
Glättung noch als Maserung oder Astgabelung erkennt. Wenn man Aphorismen liest kommen
gelegentlich solche Bilder und Erinnerungen in den Blick: eine literarische Form die ihren
Eigensinn schon in der Kürze und in der fragmentarischen Unvollkommenheit erkennen lässt. Es
geht dabei um eine Unvollkommenheit die sich gleichwohl den Anschein der Vollkommenheit zu
geben weiß. Treibholz wird wegen seiner Härte und Struktur gern zum Schnitzen von Skulpturen
und Figuren verwendet. Dabei ist es freilich angebracht auf den Eigenwuchs die unregelmäßigen
Linien und Ringe des Holzes zu achten um dem Stück nicht seine Seele aus 10 dem Leib zu
schneiden. Das eigenwillige Wesen fordert bei der hölzernen wie bei der literarischen Materie
seinen Tribut. Nicht jeder Schnitt und Schliff passt und sitzt - beim Überschleifen des Astes
ebenso wenig wie bei dem Versuch dem Eigensinn des Aphorismus Eindeutigkeit abzupressen er
gewinnt Leben und Fahrt erst im Spiel der Farben und Bedeutungen als sprachlicher Wechselbalg.
Treibholz schwimmt es treibt auf dem Wasser bleibt an der Oberfläche wird angetrieben von
der Strömung legt sich aber auch quer je nachdem wie es gewachsen und versehrt ist. Die
Richtung seiner Bewegung seines Bruchs wird von Kräften bestimmt die in ihm und auf es
einwirken. Als Splitter kann es aggressiv sein und verletzen als Bruchstück lässt es sich
treiben es spreizt sich mit seiner abgeschliffenen Härte schießt es auch dahin wie ein
Torpedo. Aber ich will die Analogien und Divergenzen nicht strapazieren. Aphorismen spielen an
den Rändern der Bedeutung mit dem Wortsinn dem Widerspruch dem paradoxalen Schein sie
sperren sich bei allem Schliff gegen die Eindeutigkeit die festlegt und wie der Buchstabe
tötet. Sinn und Aussage der Worte im Satz hängen von dem gewöhnlichen Gebrauch von der
Umgebung in der sie etwas aussagen vom Blickwinkel von Zeit und Ort und nicht zuletzt von
ihrer Kernbedeutung ab. Gegenüber dem Bemühen um Eindeutigkeit reizt die Vieldeutigkeit und die
poröse Grenze zu mehr Aufmerksamkeit der schillernde Gebrauch oder der sperrige Eigensinn
versprechen mehr Lebendigkeit und schärfen den Blick auch für das Abstruse im Normalen.
Gelegentlich fesselt der plurale Sinn gerade dadurch dass sich der Satz in 11 den vierfachen
Schriftsinn des sensus literalis allegoricus moralis und anagogicus auffächert. Die Offenheit
und Kürze dieser kleinen Form ergänzen deren Schwächen zu einem stärkeren Effekt begrenzen
aber auch die Reichweite ihrer Aussagekraft so strahlt sie die selektive Kraft eines
Schlaglichtes aus ihr fehlt aber das Charisma der sorgfältigen Differenzierung. Das setzt die
Deutungsphantasie frei verschafft ihr Atemluft und fängt zugleich den Deutungsdrang auf in der
Schwebe zwischen Ironie Widerspruch einem skeptischen Freimut und einem Scharfsinn der sich
ambiguitätsverliebt dem Doppelsinn banaler Selbstverständlichkeiten hingibt: Der Holzweg führt
dich mitten hinein. - Besonders der Gegensinn ist eine sprudelnde Quelle des Aphorismus: Wie
sollte man jemandem vertrauen der ständig die Wahrheit sagt? Oder auch: Achten Sie auf die
welche hinter Ihnen