Im Kommentarteil von Bertolt Brechts Fatzer heißt es der Gang Fatzers durch die Stadt Mülheim
werde Wirklichkeit auch wenn er nie geschehen sei sobald er von genügend viele[n] genügend
gute[n] Leute[n] die genügend aufgeklärt sind [...] als wahrhaftig erkannt worden sei. Das
Fragment weist so auf eine Geschichte derjenigen Taten hin die hätten getan werden können. Es
erscheint eine Vorstellung von Wirklichkeit die die Grenzen zwischen Theater und den sozialen
Verhältnissen zwischen Fiktion und dem was als real verstanden wird brüchig macht und
ineinander verschiebt. Das Interesse an der Wirklichkeit der Taten die hätten getan werden
können (oder in der Gegenwart der Zukunft getan werden könnten) führt zur Frage nach dem
Verhältnis von Theater und Wirklichkeit die bei Brecht - und womöglich auch für gegenwärtiges
politisches Theater? - zugleich eine nach der Lehre ist: Wie und von welcher Wirklichkeit
spricht Theater welchen Raum des Lehrens Lernens eröffnet es und wirkt damit (vielleicht) auf
Haltungen und Handlungen? Doch unsere Handlungen kommen von der Not heißt es auch im Fatzer.
Wie also sprechen Theater und Kunst von der Not wenn sie Wirklichkeit dar- oder herstellen?
Was erlaubt Not? Was ermöglicht Lehre? Die Fünften Mülheimer Fatzer Tage haben sich in diesen
Fragenkomplex begeben um über Möglichkeiten von Wirklichkeiten zu sprechen und sie zu
erzeugen sowie über das Lehrstück als ein für gegenwärtiges Theatermachen für die
gegenwärtigen sozialen Verhältnisse relevantes Modell nachzudenken. Und nicht zuletzt darüber
wie das Theater mit der Not umgeht. Eine Koordinate hierfür kann Fatzer sein: Nicht eine
bestimmte Erkenntnis soll durch die Lehre verbreitet sondern eine bestimmte Haltung der
Menschen soll durch sie durchgeführt werden. Der fünfte Band der Mülheimer Fatzerbücher - Not
Lehre Wirklichkeit - gibt das Symposium sowie weitergehende Überlegungen wieder und
dokumentiert die während der Fatzer Tage gezeigten Aufführungen: die japanische Erstaufführung
von Fatzer durch die Gruppe Chiten (Kyoto) Fatzer als Große Untergangsshow in der Inszenierung
von Alexandra Holtsch (Staatstheater Saarbrücken) und das über den Open Call eigens für die
Fatzer Tage produzierte Performance-Konzert F++++R LIVE von OBJECTIVE SPECTACLE (Berlin).