Entwicklung und Kolonisation sind Problematiken die im Kontext der unter dem Antrieb vom
Kapitalismus Fuß fassenden Industriegesellschaft und Modernisierung sowie der im Zeichen des
Imperialismus sich verstärkenden kolonialen Globalisierung im 19. Jahrhundert von großer
Brisanz sind. Dass Freytag sie in den Mittelpunkt der Handlung seines 1855 erschienenen Romans
Soll und Haben rückt zeigt den Schwerpunkt von der Auseinandersetzung mit einer durch soziale
Umbrüche markierten zeitgenössischen Wirklichkeit in seinem Text. Bei Raabe verweist diese
zeitgenössische Wirklichkeit vornehmlich auf gesellschaftspolitische Diskurse die von
verschiedenen mitwirkenden Sozialgruppen getragen werden. Vor dem Hintergrund von einem von
bürgerlicher jüdischer und adliger Sozialgruppe besetzten gesellschaftspolitischen Raum werden
in Soll und Haben Diskurse konstruiert die auf unterschiedliche Gesellschaftsmodelle
hindeuten. Der Bürger Anton Wohlfart der Jude Veitel Itzig oder der Freiherr von Rothsattel in
Soll und Haben sind also keine idiosynkratischen Akteure sondern repräsentieren bestimmte
gesellschaftspolitische Diskursstränge. Welchen Denk- Argumentations- und
Repräsentationssystemen liegen die inszenierten gruppenspezifischen Diskurse über die genannten
Problematiken zugrunde ist die Leitfrage dieser Studie. Im Zuge der aus den USA stammenden
theoretischen Ansätze wie etwa der Cultural Studies mit den von ihnen erarbeiteten
Analyseperspektiven sowie Lektüremodellen werden neue Blicke auf Werke wie etwa Soll und Haben
geworfen die inzwischen nicht mehr zum Kanon gehörten. Diese Studie verschreibt sich also
dieser Tendenz denn es mag verwundern sich heute mit einem Text auseinanderzusetzen der
wegen nicht unbegründeten Verdachts auf Antisemitismus oder Diskriminierungsapologie nach dem
Zweiten Weltkrieg in Vergessenheit geraten ist. Neuere Analyseperspektiven anhand von neueren
methodischen Annäherungsweisen sowie neueren Lektüremodellen in den von manchen Beobachtern als
vergriffen gesehenen Text Soll und Haben einzubringen ist also das übergeordnete Ziel dieser
Studie.