Elfriede Jelinek zu Joze Javorsks Gefährliche Erinnerung 2007 Auszug: Joze Javorseks
Biographie ist eine der ungeheuerlichsten die ich je gelesen habe aber es ist ja jedes Leben
ungeheuerlich wenn man es näher betrachtet und manchmal kommen Ungeheuer heraus und manchmal
Menschen die sich selbst mit größter Akribie wie unter dem Mikroskop betrachten können.
Natürlich erschrecken sie dabei. Ein Wunder dass sie nicht vor Entsetzen zusammenklappen. Doch
wenn sie genau nachdenken wenn sie um sich schauen und einen Abgrund sehen dann klammem sie
sich mit ihren Gedanken die dünn sind wie Kinderfinger an den Rand. Oder aber sie liegen wie
ein Tier das seziert werden soll auf einem wackligen Klapptisch der alles mit sich reißen
kann jeden Augenblick wenn er unter einem zusammenbricht. Javorsek hat eine der hundertmal
zerfetzten und wieder zusammengeflickten Biographien geschrieben die aus den Brüchen des
vergangenen Jahrhunderts aus sehr tiefen Tiefen aufgetaucht sind aus Tiefen in denen so
viele Menschen verschwunden sind dass man sich nicht einmal ihre Zahl vorstellen kann. Nein
diese Seziertische der Geschichte sind nicht wie das berühmte auf Knopfdruck funktionierende
Wundertischchen des Bayernkönigs Ludwig in Neuschwanstein das fleißig aufgetaucht und wieder
verschwunden ist aufgetaucht ist es voll feiner Speisen abgetaucht ist es voller Knochen und
Fleischfetzen. Die Fetzen der Geschichte werden hier nicht lautlos abgeräumt sie werden vor
uns hingespuckt. Es fehlen einem die Worte. Joze Javorsek fehlen sie nicht obwohl man es kaum
begreifen kann was er erlebt hat und auch noch aufschreiben konnte. Ich kann nicht mehr ich
suche die Worte um meine Gedanken festzuhalten. (...)