Wer von der blauen Blume träumt heißt es muss verschlafen haben. Allen diesbezüglichen
Verdikten und kategorischen Bestimmungen in Sachen Literatur steht die nicht triviale Tatsache
entgegen dass ständig weitergeschrieben wird. Gedichte Erzählungen so vielfältig in Form und
Inhalt wie eh und je auch wenn alles Schreiben seit geraumer Zeit um den prekären eigenen
Status Bescheid weiß. Das trifft auch auf die dreizehn Autorinnen und dreizehn Autoren der
FACETTEN 2022 zu. Corona Fake News Binäre Codes WhatsApp werden am Beginn von Richard Walls
großem aus zwölf Gedichten bestehendem Zyklus Im Schatten der Jahre angesprochen um dann zu
den scheinbar unwichtigen eigentlichen Fragen zu kommen: Wer raucht noch Zigaretten in der
hohlen Hand? Wer trägt noch Sockenhalter Gamaschen und bewegt Sein Steyr-Waffenrad nicht
nur sonntags übers Land? Auch Ulrike Titelbach bestätigt in hochpoetischen poetologischen
Fragmenten die angebrachte Skepsis: Poesie vermag kein verwelktes Blatt zur Fotosynthese zu
bewegen. Der einzige Trost den sie - sollte das je die Aufgabe von Literatur gewesen sein - zu
bieten hat: Mit Poesie lässt sich kein Galgen errichten. Eine bemerkenswerte Warnung an
Konsumentinnen und Konsumenten von Literatur findet sich bei Otto Johannes Adler: LESEN MACHT
DICK! Doch der Autor schafft auf subtile Weise Abhilfe indem er seine mit einem monströsen
Satzgebilde anhebende Erzählung in dreißig Schritten abspeckt um sie auf deren Titel
engzuführen: 2 Wörter 18 Zeichen. Zunehmend weniger. Dominka Meindl die längst den Titel
einer amtlichen Stadtschreiberin des Weltalls in Linz verdient hätte macht mit einer Tirade
über den Schlaf des Neobiedermeier unmissverständlich klar worum es ihr (nicht nur) in der
Literatur geht: Ich taumelte gegen eine Tür darin lagen die Leichen meiner politischen Gegner
sehr sehr peinlich ich möchte nicht darüber reden der malträtierte Leib Putins ganz oben
darunter wahrscheinlich rechtsextreme Innenminister und dergleichen Lukaschenkos
US-Präsidenten Gotteskrieger jugendlich-konservative Erlöserfiguren ich wollte es sogleich
wieder verdrängen wen ich da schon in Gedanken entleibt hatte. Wurde Philosophie einst als
Fassen der Zeit in Begriffe definiert eine mögliche Aufgabe von Literatur ist es sie als
Erzählung zu begreifen. Das schließt auch die Vergangenheit mit ein die 2022 auf gespenstische
Weise (obschon nicht zum ersten Mal) als Krieg nach Europa zurückkehrte. Im umfangreichen
penibel recherchierten Beitrag der Historikerin und Anthropologin Ortrun Veichtlbauer kehrt der
aus dem Innviertel stammende Bauer Anton aus dem 1. Weltkrieg vom Balkan und aus Russland in
die Heimat zurück. Das Chaos das sich dem Heimkehrer 1918 in Linz bietet erinnert in mancher
Hinsicht an Fernsehbilder aus der Gegenwart auch wenn diese sich heute einige hundert
Kilometer weiter östlich abspielen: Alle Straßen Wege und Straßenbahnwagen in Richtung Bahnhof
waren mit Soldaten überfüllt die ab den frühesten Morgenstunden mit vollgepfropften Rucksäcken
und Koffern zu den Zügen eilten den Platz vor dem Aufnahmegebäude belagerten die Korridore
Warteräume und die Bahnhofsrestauration. (...) An manchen Nachmittagen reisten bis zu 40.000
Soldaten durch Linz die Züge von den Räderachsen bis auf die Waggondächer besetzt. Manche
Transporte führten ganze Viehherden manche Haubitzen und Maschinengewehre mit. Vielfach
schossen die Durchfahrenden denen die Waffen nicht abgenommen werden konnten bei Ankunft und
Abfahrt mit scharfer Munition in die Luft. Abenteuerliche Szenen unter dem Pfeifen der Züge.
Der Bogen der historischen Biografie des Bauernburschen aus St. Pantaleon der wegen Hörens von
Feindsendern vernadert wird und im Gefangenhaus Linz landet führt bis ins Jahr 1941. Historia
magistra vitae besagt ein alter Spruch: Geschichte ist Lehrmeisterin des Lebens. Veichtlbauer
stellt ihrem erzählerischen Essay (dessen erster Teil in den Facetten 2021 na