Es ist ein Bedürfnis des Menschen fremde Bewusstseinsinhalte unverfälscht zu erfahren. Was ihm
in der realen Welt verwehrt bleibt bietet das fiktionale Erzählen. Indem der Erzähler einer
fiktionalen Erzählung keinen Anspruch darauf erhebt wirklich Geschehenes darzustellen
erscheint es unproblematisch wenn er das Innenleben seiner Figuren offenlegt. Dies ist bei
einer faktualen Erzählung nicht möglich da sie wegen ihres Realitätsbezugs den Grenzen der
menschlichen Wahrnehmung unterliegt. Die Darstellung fremden Bewusstseins wird daher oft als
Alleinstellungsmerkmal des fiktionalen Erzählens angesehen. Aber wird im faktualen Erzählen
tatsächlich vermieden fremdes Bewusstsein darzustellen? Oder liefert es dem Rezipienten nicht
doch das was er wissen möchte und ist damit dem fiktionalen Erzählen ähnlicher als angenommen?
Diesem Fragenkomplex widmete sich die vorliegende Studie. Mit Hilfe eines computergestützten
diachronnarratologischen Ansatzes wurde ein Korpus von fünf Entwicklungsromanen und fünf
Biographien aus dem achtzehnten bis zwanzigsten Jahrhundert im Hinblick auf Darstellungen
fremden Bewusstseins analysiert. Die Ergebnisse zeigen dass es sich lohnt die bisherigen
Annahmen in diesem Bereich zu überdenken.