Die Wiederkehr topischer Stoff-Findung (inventio) in literarischen Schreib- und Lektüreszenen
des Spätrealismus ist literarhistorisch kurios. Längst war die Topik als ehemals
vorherrschendes Verfahren der Wissensordnung und Textproduktion desavouiert da ihre
Orientierung am kulturellen Gemeinsinn sowohl dem strengen Methodenbegriff seit Descartes als
auch der modernen subjektzentrierten Ästhetik zuwider lief. Am Ende des 19. Jahrhunderts steht
gar der kulturelle Gemeinsinn als solcher infrage. Gerade darum so die zentrale These dieser
Studie gewinnt die Topik als kulturelle Heuristik neue Aktualität: In Romanen wie Fontanes
Cécile und Raabes Die Akten des Vogelsangs nutzen fiktive Textproduzenten topische Finde- und
Speichertechniken um zum Stoff der Geschichten sozialer Randfiguren zu gelangen. Unweigerlich
erkunden und hinterfragen sie dabei die Restbestände des zeitgenössisch noch geteilten
kulturellen Wissens sowie das Ausmaß ihrer eigenen Teilhabe daran. Diese Indienstnahme der
Topik als Verfahren kultureller Selbstvergewisserung und -kritik rückt das kulturanalytische
und kulturformierende Potential realistischer Literatur in den Blick.