Nicht nur aktuelle Entwicklungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bieten
Anlass sich grundlegend mit den Residualkompetenzen in Bezug auf die Überprüfung abgeleiteten
Unionsrechts zu beschäftigen. In jahrzehntelanger Rechtsprechung hat das
Bundesverfassungsgericht die Trias seiner Vorbehalte in Bezug auf übertragene Kompetenzen
(ultra vires) auf die Wahrung essenzieller Grundrechtsstandards (Solange II) sowie im Hinblick
auf die Einhaltung der Verfassungsidentität entwickelt und geschärft. Lange hat es die Ausübung
seiner Residualkompetenzen indes nur angedroht. Im PSPP-Urteil vom Mai 2020 wurde sodann
allerdings erstmals ein ultra-vires-Akt angenommen was weit über die Verfassungs- und
Europarechtswissenschaft hinaus für Aufsehen gesorgt hat. Doch kann die dogmatische
Grundkonzeption der Residualkompetenzen überzeugen? Welche Neuausrichtungen sind geboten? Kann
der Konflikt um die Letztentscheidungskompetenz überhaupt gelöst werden?