Evangelisches Selbstverständnis bewegt sich in der Folge der Reformation bis heute im
Spannungsfeld von Schriftbindung (sola scriptura) und Schriftauslegung. Die Aufklärung rückte
die Sicht auf die Bibel als historisch gewachsene Textsammlung ins Zentrum. Neue
Auslegungsmethoden eröffneten neue Zugänge zu biblischen Texten. Trotzdem: Nur selten lassen
sich Antworten auf heutige Fragen direkt aus der Bibel ableiten. Das Ringen um ein gemeinsames
Verständnis der Bibel wird für jene zur Herausforderung die in der Kirche Verantwortung
tragen. Sie sind herausgefordert kirchliche Entscheidungen an der Bibel auszurichten und
zugleich menschlich klug zu entscheiden. Der vorliegende Grundlagentext der Kammer für
Theologie der EKD entwickelt hierfür das Modell des Überlegungsgleichgewichts in Anlehnung an
einen Begriff von John Rawls. Unterschiedliche Instanzen der Urteilsbildung und biblische
Einsichten sollen in einem Abwägungsprozess gewichtet und miteinander vermittelt werden.
Erfahrungswissen und Einsichten aus den Wissenschaften werden zu biblischen Aussagen so ins
Verhältnis gesetzt dass die orientierende und bindende Kraft der Bibel zum Tragen kommt.