In allen Theorien des Schönen und der Kunst die in der italienischen Renaissance entwickelt
wurden nimmt der Begriff der grazia eine Schlüsselstellung ein. Ebenso gab es in der Theologie
des 16. Jahrhunderts keinen anderen Gegenstand der so kontrovers diskutiert wurde wie der der
gratia. Sowohl in der Ästhetik als auch in der Religion verweist grazia gratia auf eine Gabe
die vom Menschen nicht hergestellt verdient oder eingefordert werden kann. Gnade ist in Kunst
wie Theologie eine Figur der Unverfügbarkeit der Unbegreiflichkeit und einer nicht
regulierbaren Freiheit. Das gilt auch für das Nachdenken über Gnade vor der Reformation. Die
vielen unterschiedlichen Theologien des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit
unterscheiden sich nicht hinsichtlich des grundsätzlichen Charakters den sie der gratia als
unverdienbarer volatiler alles menschliche Maß sprengender Gabe zuschreiben sondern in der
Frage nach der Bedeutung der menschlichen Werke. Stellen diese Werke und die Anstrengungen des
Menschen vor und nach der Gnadengabe - auch wenn sie die Gnade nicht erzwingen oder produzieren
können - einen integralen und notwendigen Bestandteil des Heilsgeschehens und des
Kunstschaffens dar? In der vorliegenden Studie wird der Versuch unternommen das bildnerische
wie dichterische Werk von Michelangelo Buonarroti (1475-1564) mittels einer Untersuchung seiner
Vorstellung von Gnade einzuordnen in das komplexe Feld der Religionsgeschichte Italiens im 16.
Jahrhundert.