Alle Kulturen müssen mit Ambiguität leben. Sie unterscheiden sich jedoch dadurch wie sie damit
umgehen. Zweideutigkeit wird hingenommen ja mitunter wird sie bewußt erzeugt und nimmt
wichtige kulturelle Funktionen ein etwa in Konventionen der Höflichkeit und der Diplomatie
durch Riten oder Kunstwerke. Sie kann aber auch vermieden und bekämpft werden. Kulturen
unterscheiden sich also durch ihre unterschiedliche Ambiguitätstoleranz. In islamischen
Kulturen ist in dieser Hinsicht während der letzten Jahrhunderte ein Wandel zu beobachten der
sich so deutlich und mit solch drastischen Konsequenzen kaum anderswo zeigt: von einer relativ
großen Toleranz hin zu einer bisweilen extremen Intoleranz gegenüber allen Phänomenen von
Vieldeutigkeit und Pluralität. Während zum Beispiel im 14. Jahrhundert die Varianten des
Korantexts und die Vielzahl an Auslegungsmöglichkeiten als Bereicherung galten ist dies heute
vielen Muslimen ein Ärgernis. Die Erforschung des Umgangs mit kultureller Ambiguität ist ein
Gegenstand der Mentalitätsgeschichte. Verläßt man den eurozentrischen Blickwinkel und stellt
Denken Fühlen und Handeln der Menschen in den Mittelpunkt des Interesses kommt man zu einer
alternativen nicht teleologisch gefärbten Geschichtserzählung. Daher ist auch der Untertitel
des Buches - Eine andere Geschichte des Islams - mehrdeutig ambig zu lesen. Nicht eine andere
Geschichte des Islams soll erzählt werden sondern vielmehr eine andere Geschichte des Islams
in der aber auch einige scheinbar selbstverständliche Bestandteile der eigenen Kultur in Frage
gestellt werden. Diese Sicht macht dieses Buch so interessant und wichtig.