Ausdeutschen. »Habe ich schon von meinem Großvater erzählt der genausogut mein Urgroßvater
hätte sein können? Der immer ausdeutschen sagte das werde ich Euch schon ausdeutschen. Der
damit meinte etwas deutlich und mit Nachdruck erklären.« Seinen südbayerischen Starnberger
Kosmos und die Stadt München hat der Autor Andreas Neumeister mit seinem dritten Buch
Ausdeutschen verlassen: um das neue Berlin nach dem Mauerfall zu erkunden Berlin im
wiedervereinigten Deutschland - und Deutschland in Europa. Geblieben ist aber bei diesem
Ausdeutungs- und Ausdeutschungsversuch der kritische Zeitgeistchronist und
Bewußtseinsarchäologe seiner Generation. War Salz im Blut noch das München-Buch eines
anarchischen Stadtethnologen der »die letzten Abenteuer des 20. Jahrhunderts« festhalten
wollte so setzt Andreas Neumeisters Ausdeutschen die Archivierung neuer Erfahrungen fort:
»Westberlin als West-Berlin ist in sechs Stunden definitiv Geschichte soll ab morgen wieder
Berliner Westen heißen.« Mit wachem Blick macht sich Neumeisters erzählendes und
fotografierendes Ich auf den Weg um das neue Deutschland zwischen alter und neuer Zeitrechnung
- im Winter 1990 91 - literarisch auszuforschen. Und so radikal wie sich die Wirklichkeit
verändert hat so radikal und sprachwütig-assoziativ ist Andreas Neumeisters Sprachästhetik des
Ausdeutschens. »Zeitmaschinen Geschichtskompressoren ausholen die Jahrhunderte in großen
Schritten durchmessen: vom hundersten ins tausendste kommen und wieder ins zwanzigste zurück.«
Auf dem Atlas und auf Reisen bevorzugt mit der Reichsbahn vermißt er ständig auf dem Sprung
durch Geschichte und Geographie die neue Nähe wirft dieser popgeschulte Topograf seine
bizarren Sprach-Blicke auf wieder aufgetauchte Städte und Landschaften hetzt dieser neugierige
»Weltbildfotograf« durchs aufgescheuchte Berlin denn »alles was heute geschieht erhebt
Anspruch auf Bedeutung«. Ob er sich in Thüringen an den mecklenburgischen Seen oder in Ungarn
bewegt Berliner Kleingartenanlagen durchbuchstabiert Kindheitserinnerungen aufblitzen läßt
oder über neue Medien und neue Weltordnungen scheinbar paradox räsoniert - unter dem
respektlosen Blick des »Komparatisten« Andreas Neumeister wird jüngste Geschichte
ausgedeutscht. »Geschichte kommt womöglich von schichten vom Aufeinanderschichten
chronologisch geordneter Schichten. Ohne den Tag von Potsdam hätte es Potsdam nie gegeben. Ohne
Jalta hätte es Potsdam nie gegeben. Ohne München wäre es zu Jalta nie gekommen. Ohne Potsdam
wäre es zu West-Berlin nie gekommen. Die Geschichte kennt keinen Konjunktiv mag sein aber der
Konjunktiv kennt viele folgenreiche Geschichten.«