Das Gebet auf dem PrüfstandDie Erfahrung des Gebets steht als Kernelement theoretischer wie
praktischer Spiritualität im Zentrum der jüdisch-christlichen Tradition. Angesichts der
fortgeschrittenen Säkularisierung der europäischen Gesellschaften und der Erosion der
klassischen Metaphysik einerseits sowie der ambivalenten Rückkehr und Repolitisierung des
Religiösen andererseits ist die Bedeutung des Gebets jedoch zu einer offenen Frage geworden. In
diesem Kontext intendiert das Buch den Topos des Gebets im Nachgang der Werke des Theologen
Historikers und Kulturwissenschaftlers Michel de Certeaus SJ (1925-1986) einer neuen Lesbarkeit
zuzuführen. Certeau vollzieht in seinen Arbeiten bereits früh die Wende von einer theologisch
orientierten Forschung hin zu den Disziplinen der Humanwissenschaften. Gerade seine
interdisziplinär angelegten Studien zur christlichen Spiritualität und Mystik sowie seine
Untersuchungen zur säkularen Alltagskultur bieten sich deshalb für eine Reinterpretation des
Gebets an. Als hermeneutischer Schlüssel erweist sich dabei die psychoanalytische Konzeption
Jacques Lacans von welcher insbesondere Certeaus spätere Arbeiten stark geprägt sind. Die
darin zentrale Kategorie des Begehrens (désir) fungiert als wesentlicher Bezugspunkt für die
psychoanalytisch informierte Übersetzung des Gebets in einen posttraditionalen Kontext. Dieser
Ansatz erlaubt es das Gebet als einen Ort der Konfrontation des Subjekts mit seiner
Sterblichkeit und Verletzlichkeit zu betrachten sowie als eine Möglichkeit das Begehren auf
symbolische Weise zu realisieren wodurch es den inhärenten Mangel der Existenz nicht verdrängt
sondern ihn als Bedingung der Liebe und Ausgangspunkt weltschöpferischer Kreativität
gastfreundlich offen und aufrecht hält.Ausgezeichnet:Karl-Rahner-Preis 2022