Ich spürte das Mühlrad in meinem Kopf. Verwirrt fragte ich mich: Was nun? Womit beginnen? Was
sagen? Was nicht? Viele Jahre waren vergangen seit ich ohne Abschied und ohne Ausrede das
Drachenhaus in Kronstadt verlassen hatte. Wo sie Anita Mirjam mich aufgenommen hatte
aufgelesen von der Straße und wo wir in zwei Dachstübchen nebeneinander gehaust hatten jeder
beschirmt vom Drachenkopf eines Wasserspeiers Klingsors Lindwürmern die hoch über der
Schwarzgasse im Grünspan aufleuchteten. Eginald Schlattner In Transsylvanien ist nicht nur der
allseits bekannte Dracula als historisch-reale vor allem aber als mythisch-fiktionale Gestalt
beheimatet sondern auch der mittelalterliche Sänger und Zauberer Klingsor. Hält er sich in
Kronstadt auf dann erglühen die Drachenköpfe an den Dachtraufen seines Hauses in der
verwinkelten Altstadt gemeinhin Drachenhaus genannt. Angeregt von Iris Wolffs gleichnamiger
Erzählung die nach dem Ende der kommunistischen Diktatur 1989 angesiedelt ist erinnert sich
Eginald Schlattner in seinem neuen Roman an die alles andere als friedvollen frühen
1960er-Jahre als auch er kurzfristig im Drachenhaus Unterschlupf findet. Und selbst wenn sich
der Zauberer Klingsor zu dieser Zeit nicht in der siebenbürgischen Stadt im Karpatenbogen
aufhält die Dachtraufen also nicht erglühen geschieht immer wieder nie Dagewesenes treten
immer wieder Figuren in Erscheinung deren Verhaltens- und Handlungsweisen nicht selten
drachenhafte Züge offenbaren. Wenn die jüdische Harfenspielerin Svetlana aufgewühlt durch die
Lektüre von Elie Wiesels Die Nacht zu begraben Elischa zum ersten Mal über ihre Internierung
in den Konzentrationslagern Theresienstadt und Buchenwald berichtet wenn die bessarabische
Bojarin Anastasia die jahrelang einen deutschen SS-Offizier als ihre vermeintlich schwer
kranke Mutter versteckt gehalten hat ihn nach seinem Tod unerkannt zu begraben versucht oder
wenn der Securitate-Major Blau nach der Erkundung eines unterirdischen Geheimgangs der von der
Stadtmauer zum Drachenhaus führt plötzlich aus dem Untergrund im Lesezirkel der Hausbewohner
auftaucht verdichten sich die Geschehnisse zu einer greifbaren Vergegenwärtigung jener
düsteren beklemmenden Zeit. Obwohl einige der Gestalten den treuen Lesern Eginald Schlattners
bereits aus seinen vorherigen Büchern bekannt sein dürften etwa die engere Familie oder der
Vernehmungsoffizier vom Geheimdienst nebst seiner eigenwilligen Nichte gewinnt der Autor ihnen
überraschend neue Facetten ab indem er sie in einem gewandelten Kontext agieren lässt nämlich
in einer unerfüllten weil einseitigen Liebesbeziehung zwischen der Pfarrerstochter Anita
Mirjam und dem Ich-Erzähler die nach einem tragischen Unfall der jungen Frau der sie an den
Rollstuhl fesselt in der Mahnung und Erkenntnis gipfelt: Du bist für das Antlitz des anderen
verantwortlich. Eginald Schlattner bietet hier erneut ein ebenso lebendiges wie berührendes
transsylvanisches Panorama und Panoptikum.