Jetzt im hohen Alter befällt mich eine nahezu verstiegene Sehnsucht nach Menschenkindern die
nicht mehr sind. Nach den Mädchen die einst begreifbar waren bis in die Fingerspitzen der
Seele und durch ihren Tod unbegreiflich geworden sind ... Ich lerne die regungslosen
Erinnerungen zu erwecken die abgebrochenen Geschehnisse weiterzuführen. Es gelingt
verblichene Gestalten wachzurufen so dass ihre Gegenwart weh tut zwischen Gedächtnis und
Phantasie.Denke ich heute zurück während ich das Einstige beschwöre: Da- mals in den jungen
Jahren - mein Gott wie denn auch? - hatte noch kein totes Mädchen das Gemüt verstört. Aber
Rainer Maria Rilke berührte zu früher Stunde unser Gemüt wenn noch nicht als Schlußstück: Der
Tod ist groß. Wir sind die Seinen lachenden Munds. Wenn wir uns mitten im Leben meinen
wagt er zu wei-nen mitten in uns.Es fällt mir auf: Erzählt wird manches was schon früher
festgeschrieben ist. Dieselben Namen spazieren durch die verschiedenen Bücher.Weshalb ich auf
bereits Bekanntes zurückgreife? Der Gedächtnis- roman. Im Gegensatz zum Erin-
nerungsroman.Denkbar so: Da wäre die Omni- präsenz meiner Biografie in allem was ich schreibe.
Die Biografie die sich bei aller Modellierbarkeit des Textes an Fixpunkte halten muss. Doch
jedes Mal neu ist der Kontext.Die Frage die den Schreibenden wie die Lesenden immer wieder
umtreibt: Was ist ersonnen was ist Tatsache in dem Text? Wann und wo und wie decken sich
Erdichtetes und Erinnerung? Die lila Maske vor dem Gesicht: durchscheinend? Ich meine dass es
in jeder Geschichte einen Angelpunkt geben muss wo sich erinnerte Wahrheit und wahre
Geschichte in den Armen liegen.Zu bedenken wäre: Tief ist der Brunnen der Vergangenheit! Und
als Nächstes: Warum diese Geschichte zu später Lebensstun-de? Warum jetzt was seit Langem in
der Luft lag als klagendes Gedächtnis: die toten Mädchen vor der Zeit vor meiner Zeit. Ja
warum?Zwei Buben fahren mit den Rädern von einem Dorf ins andere. Eine Begebenheit die
Jahrzehnte zurückliegt. Die Fahrt? Eigentlich ein Schüleraufsatz. Der mit der lächerlichen
Überschrift Der Hampel- mann begonnen und sich zum makabren Totengeleit geweitet hat.Denn was
mir während des Schrei- bens beklemmend auffällt ist dass sich diese Fahrt nicht nur aufrollt
als eine Episode entlang der endlosen Baumreihen auf einer Landstraße sondern dass sie
vorbeiführt an Grabsteinen verstummter Namen - irgendwo nirgendwo.Dies Nirgendwo ist im Laufe
des Lebens zu einer Zeichenkette angewachsen besteckt mit nahen Na- men. Die sich
verflüchtigten oft Jahrzehnte ungenannt blieben. Bis sie in einer Todesnachricht wiederkehrten
oft als Fama. Und ich erlebe es in ratloser Wehmut dass diese elysäischen Wesen einer frühen
Entflammtheit bereits tot sind vor mir tot sind. Während des Schreibens erscheinen immer an-
dere Namen von nicht mehr - nie mehr. Es gibt kein letztes geliebtes Wesen. Nur vorletzte
Geschöpfe der Schattenspiele ...Eginald Schlattner