Liszt und Osteuropa oder - weniger kartographisch gedacht - Liszt und der Osten ist ein
faszinierendes Thema. Dies zunächst weil sich damit sofort ein kultursoziologisches
Spannungsgefüge auftut das mit dem von Stuart Hall 1992 geprägten Schlagwort »The West and the
Rest« mindestens den Reflex wenn nicht das Bedürfnis auslöst Denkfigurenvon Zweitrangigkeit
oder Peripherie abzuschütteln. Dies auch weil die Liszt-Forschung zu lange unter
Spaltungsprozessen nationaler Ost-West-Prägung gelitten hat: Das betrifft nicht nur den
Eisernen Vorhang der bis 1989 beiderseits die Nachkriegsforschungen behinderte - sei es in
punkto Quellen-Sichtungen sei es in punkto politisch unerwünschterZusammenarbeit - sondern
auch diverse in West und Ost begonnene oft nicht aufeinander abgestimmte Forschungsprojekte
von denen viele bis heute nicht beendet wurden. Und schließlich ist der Biographie FranzLiszts
selbst ebenso eine polyglotte Internationalität und reisende Beweglichkeit wie eine merkwürdig
lokale Beharrlichkeit zu eigen ausgerechnet im (später ostdeutschen) Städtchen Weimar die
längste Zeit an einem Ortgelebt zu haben. Waren ihm die Kategorien West und Ost Nord und Süd
die das nationalpatriotisch erhitzte 19. und erstrecht das 20. Jahrhundert prägten überhaupt
bewusst? Innere Spannungen der Nichtzugehörigkeitwird er zumindest empfunden haben als jemand
der in einem Landstrich geboren wurde der sich erst danach »Königreich Ungarn« nannte zumal
er die ungarische Sprache kaum beherrschte. Reagierte er deshalb so patriotisch übersteuert auf
die Ehrungen die ihm später als neu installierter Nationalkomponist in Ungarn zuteil wurden?
Doch waren ihmdiese offenbar auch nicht wichtig genug um sich dauerhaft in der neuen und alten
Heimat niederzulassen mindestens in diesem Punkt blieb er auf Distanz. Immerhin bot die
massive Magyarisierungspolitik nach 1866auch Liszt die Möglichkeit am jungen freilich
konstruierten Gebäude desauch musikalischen Nation Buildings tatkräftig mitzuwirken. Als
klugerMarketingstratege mag er - als freier humanistisch gesinnter Geist - eindenkbares
Unbehagen einmal beiseite gelassen haben.Mag Liszt vielleicht über keine intrinsischen
nationalpatriotischenMotivationen und auch nicht über das Bewusstsein verfügt haben im'Osten'
geboren worden zu sein so zeigt der Blick in die geographischeRegion des Ostens doch eines
ganz deutlich: Zahlreiche osteuropäischeund russische Komponisten haben sich Liszts Musik zum
Vorbild undals Anregung genommen mit ganz unterschiedlichen Ambitionen undErfolgen aber in
einem schon rein quantitativen Ausmaß das aufhorchenlässt. Weder in England noch in Frankreich
hat Liszt eine derartig produktive Rezeption erlebt in Italien und Deutschland standen zwar
für eine Weile noch nach 1900 die Sinfonischen Sichtungen im Sichtfeldder Rezeption sie
verschwanden aber ebenso rasch aus dem kulturellenGedächtnis wie seine großen Konzerte die
Transkriptionen Lieder undVokalstücke.Übrig blieb die virtuose Klaviermusik die heute unser
klanglichesLiszt-Bild prägt aber nur eine Nuance seines Schaffens ausmacht.Was reizte die
Komponisten aus Tschechien Ungarn Polen und Russlandan seiner Musik? War es die Musik selbst
Liszts ungarische Vereinnahmungund damit sein musikpatriotisches Vorbild oder doch
seinesupranationale Identität?Um sich diesem großen Fragekomplex anzunähern haben die
Autorinnen und Autoren dieses bereits vierten Liszt-Jahrbuches zahlreiche Perspektiven auf den
Osten und das Nationale in Liszts Schaffen sowiedie Rezeption Liszts in Osteuropa und Russland
geworfen. Dorothea Redepenning (Heidelberg) gibt zunächst eine Einführung in das Thema »Liszt
und Osteuropa« bevor Stefan Keym (Leipzig) »Liszt und die Rolledes Nationalkomponisten in
Osteuropa« befragt. Malgorzata Gamrat (Lublin) untersucht Liszts Vertonung der Romanze »Les
pleurs des femmes« der russischen Dichterin Karolina Karlovna Pavlova. Jirí Kopecký (Olomouc)
richtet eine