Die Scala daustralium von Guigo neunter Prior der Grande Chartreuse ( 1188 oder 1193) ist der
Klassiker wenn es um die monastische lectio divina geht. Bereits im Mittelalter und dann in
der Frühen Neuzeit erfuhr das Werk weiteste Verbreitung. Guigo hat diese Art der Schriftlesung
in verständlicher Weise systematisiert mit Hilfe des traditionellen Schemas lectio - meditatio
- oratio - contemplatio. Trotz der eminenten Bedeutung der Schrift existierte bisher nur eine
neuere deutsche Übersetzung im Anhang zum leider schon seit längerer Zeit vergriffenen Büchlein
von Enzo Bianchi Dich finden in deinem Wort (Freiburg 1988 Neuausgabe Eichstätt 1997) einem
weiteren Klassiker zur lectio divina. Diese Übersetzung war auch abgedruckt in der ebenfalls
vergriffenen Kartäuseranthologie Gott schauen (hg. v. G. di Lorenzi Würzburg 1996). Umso
verdienstvoller ist es dass der Siegburger Benediktiner Daniel Tibi mit der vorliegenden
Schrift eine aktuell zugängliche Übersetzung vorlegt. Bedauerlicherweise verwendete er als
lateinische Vorlage die alte Migne-Ausgabe (PL 184 475-484) statt des heute gültigen Texts in
den Sources Chretiennes (SChr 163 ed. Edmund Colledge James Walsh. Paris 1970).Seiner
Übersetzung schickt Tibi eine ausführliche Einleitung voraus die in überarbeiteter Form auch
in der Zeitschrift Geist und Leben 83 (2010) 222-234 erschien. Kundig erschließt Tibi im
Rückgriff auf die Väter und auf zeitgenössische Autoren die lectio divina für einen heutigen
Christen. Zugleich macht er mit den wesentlichen Inhalten der Schrift Guigos vertraut. Dieser
möchte in seinem Brief an den Mitbruder Gervasius (evtl. Prior der Kartause Mont-Dieu) einige
Gedanken über die geistlichen Übungen der Mönche mitteilen und sie dessen kritischem Urteil
unterbreiten. Letzteres tut Guigo weil er die geistlichen Übungen nur durch Nachdenken (kenne)
du aber aus Erfahrung. Diese Übersetzung verfälscht den Text (Übersetzung bei Bianchi: du
kennst sie mehr aus der Erfahrung als ich durch Nachdenken) wird aber vor allem dem Charakter
der Schrift nicht gerecht. Denn der Brief Guigos liest sich gerade deshalb auch heute mit
besonderem Gewinn weil der Autor nicht nur über die lectio schreibt sondern das Geschehen der
lectio zugleich vorführt. Er tut dies anhand der Betrachtung eines für geistliches Leben
zentralen Verses aus der Bergpredigt: Selig die reinen Herzens sind denn sie werden Gott
schauen. (Mt 5 8)Eine fruchtbare Lektüre der kurzen Schrift Guigos erfordert sorgfältiges
meditierendes Lesen. Diese Lektüre sollte in keinem Noviziatsunterricht fehlen. Dafür bietet
die vorliegende Schrift eine gute Grundlage auch wenn die Übersetzung im Vergleich zur
Vorgängerin nicht immer zu befriedigen vermag.Bruno Rieder OSB DisentisHeft 3 2011 der
Zeitschrift Erbe und Auftrag Seite 350.