Der österreichische Soziologe Rudolf Goldscheid (1870-1931) gilt heute unbestritten als einer
der Gründungsväter des Faches im deutschsprachigen Raum und als treibende Kraft im
Entstehungsprozess der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Von Beginn an profilierte er sich
als Kritiker des seinerzeit gängigen Mainstreams innerhalb der universitären
Geisteswissenschaften. Er bestritt Max Webers These von einer wertfreien Wissenschaft ebenso
wie Durkheims Forderung Soziales nur durch Soziales zu erklären. Damit standen sich zwei
völlig verschiedene Entwürfe von Soziologie unversöhnlich gegenüber. Im Gegensatz zum
dominierenden Konzept einer Wissenschaft des Seins das sich innerakademisch darauf beschränkt
Gewordenes zu erklären ging es Goldscheid in seiner Wissenschaft des Werdens um die aktive
Gestaltung gesellschaftlicher Zukünfte um das gesellschaftliche Wirksamwerden von Wissenschaft
außerhalb des Elfenbeinturms. Das machte es erforderlich die Soziologie wert- und
willenstheoretisch zu untermauern und ethisch zu begründen.Die Substanz jeglicher Form von
Vergesellschaftung war für ihn der Mensch der vermittelt über die von ihm geschaffenen
Institutionen zwar von ihnen tagesaktuell geprägt werde sie aber zeitenübergreifend auch
verändern könne. Schon deshalb um Interventionsmöglichkeiten in ihrer Komplexität richtig
einschätzen zu können erschien ihm eine Soziologie ohne Berücksichtigung biologischer
ökonomischer und psychologischer Erkenntnisse als Unding.Abgesehen von Ferdinand Tönnies
(1855-1936) der ihm freundschaftlich verbunden war ist kaum einer der frühen Soziologen in
der Retrospektive so häufig missverstanden worden wie Rudolf Goldscheid. Die in Angriff
genommene Werkausgabe beginnend mit der umfangreichen Monographie Zur Ethik des Gesamtwillens
von 1902 stellt einen längst überfälligen Beitrag dar nach wie vor bestehende Unkenntnisse zu
beheben und immer wieder neu kolportierte Missverständnisse auszuräumen.