Die Dido-Episode der zwischen 1170 und 1190 entstandenen Eneide Heinrichs von Veldeke enthält
mehrere Szenen über die man als durchschnittlicher moderner Leser unweigerlich den Kopf
schüttelt: Ob Dido nun den gestrandeten Eneas allzu überschwenglich in Empfang nimmt
wenngleich sie sich erst später unter göttlichem Einfluß in ihn verliebt oder ob in Didos Plan
eines Jagdausritts das die Liebesvereinigung mit Eneas ermöglichende Unwetter schon
vorweggenommen scheint jeweils drängt sich der Eindruck auf daß hier der Zusammenhang der
Erzählung irgendwie gestört ist. Gefährdet Didos Liebe zu Eneas demnach die narrative Kohärenz
der Eneide?Gängiger Forschungsmeinung zufolge unterliegen mittelalterliche Erzähltexte weniger
strengen Kohärenzanforderungen als moderne Erzählungen Inkohärenz gilt geradezu als eines
ihrer typischen Stilmerkmale. Allerdings stellt sich die Frage ob für diese Beurteilung nicht
die unzulässige Inanspruchnahme eines historisch nur begrenzt gültigen Kohärenzbegriffs
verantwortlich ist. Die vorliegende Untersuchung geht dem ausführlich nach indem sie am
Beispiel der Dido-Episode verfügbare Konzepte narrativer Motivation kritisch auf ihre
Anwendbarkeit und Aussagekraft prüft. In Abhebung vom kausalen Kohärenzmodell der modernen
Narratologie wird ein erweitertes systematisches Kohärenzmodell entwickelt welches dadurch
daß es sowohl die sogenannten Oberflächeneigenschaften als auch die thematische Sinnbildung
narrativer Texte stärker berücksichtigt nicht nur deren Literarizität gerecht wird sondern
vor allem auch die bei der Interpretation mittelalterlicher Erzählungen vielfach bemühte
Finalität als Effekt spezifischer historisch und gattungstypisch variabler Erzählstrukturen zu
beschreiben erlaubt.