Die »Traumdeutung« ist zweifellos bis heute das in der breiten Öffentlichkeit bekannteste
psychoanalytische Werk und auch Freud selbst erachtete sie stets als seine bedeutendste
Arbeit. Die Entdeckung der Sinnhaftigkeit der Träume sowie der Methode zu ihrer Deutung
markiert die Geburtsstunde der Psychoanalyse als eigenständige Wissenschaft. Man könnte meinen
dass dem Traum in der gegenwärtigen Psychoanalyse nicht mehr jener zentrale Stellenwert
beigemessen wird und die Rolle des psychoanalytischen »Königswegs« zunehmend von der Analyse
der Übertragung und Gegenübertragung übernommen wurde. Schon Freud hatte in seinen letzten
Lebensjahren über ausbleibende Weiterentwicklungen der psychoanalytischen Traumlehre geklagt:
»Die Analytiker benehmen sich als hätten sie über den Traum nichts mehr zu sagen als wäre die
Traumlehre abgeschlossen.« (GW XV 6) Dass es im Gegensatz zu Freuds Befürchtungen doch noch
sehr viele neue und relevante Dinge über den Traum zu sagen gibt beweisen die zahlreichen
bedeutenden Beiträge nachfolgender Analytikergenerationen so etwa Bertram Lewins Ausführungen
zur Traumleinwand (dream screen) Erik Eriksons Aufwertung des manifesten Trauminhalts oder
Fritz Morgenthalers umfassende Studien zur Praxis der Traumdeutung.Die Freud'sche Traumlehre
erwies sich auch als fruchtbarer Boden für den Dialog zwischen Psychoanalyse und Kunst und
Literatur. So verwendete bereits Freud selbst seine Methode zur Deutung von Träumen in
literarischen Werken wie Jensens Gradiva und umgekehrt zeigten sich zahlreiche Künstler*innen
wie beispielsweise die Surrealist*innen in ihrer schöpferischen Tätigkeit von der Freud'schen
Theorie inspiriert. Über die primär visuelle Dimension der Träume und die spezifische
Erlebnisform des Träumens ergeben sich schließlich signifikante Ähnlichkeiten mit dem Film und
der Erfahrung im Kino. In der »Traumdeutung« prägte Freud das Bild vom »Nabel des Traums« als
jene Stelle wo der Traum dem Unerkannten aufsitzt. Genau an dieser Stelle wo das Bekannte das
Unbekannte berührt wollen die Sigmund-Freud-Vorlesungen 2022 die Frage nach dem Traum und dem
Träumen wiederaufnehmen und einen Überblick über den gegenwärtigen Stand der psychoanalytischen
Traumforschung geben.