1991 löste sich die Sowjetunion auf - 2022 überfiel Russland die Ukraine. Auch wenn Letzteres
nicht zwingend aus Ersterem folgte so hängen beide Ereignisse doch zusammen. Während den
meisten Ländern Ost- und Südosteuropas nach dem Ende des Sowjetsystems die politische und
wirtschaftliche Transformation gelang trägt Russland noch immer schwer am historischen Erbe
der sowjetischen Strukturen. Mit seinem Großmachtstreben der Neigung zu militärischen
Interventionen der Position des Präsidenten als monarchischer Diktator und dem Umgang der
Bevölkerung mit gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen zeigen sich dort noch
heute deutliche Spätwirkungen der Sowjetzeit. Katrin Boeckhs Geschichte der Sowjetunion und
ihrer Nachwirkungen setzt ein mit der Entstehung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken
nach der Oktoberrevolution 1917. Sie zeichnet die Etablierung ihrer Staatlichkeit und ihre
imperiale Expansion nach bis hin zu ihrem Verfall sowie der Entwicklung im Nachfolgestaat
Russland. Neben der politischen Geschichte und ihren Akteuren gilt es auch die Gesellschaft
nicht aus dem Blick zu verlieren: jene Mehrheit die das System vor allem aushielt jene die
dagegen ankämpften und jene die zu Hunderttausenden als Volksfeinde in den Gulag gesperrt
oder umgebracht wurden. Was von dem was die macht- und ideologiegetriebene Politik der
herrschenden Kommunistischen Partei gebot kam wie in der gesellschaftlichen Wirklichkeit im
Alltag der Bevölkerung an? Ins Blickfeld kommen der lange Arm der Partei die ökonomischen
Auswirkungen der Planwirtschaft die kulturpolitischen Besonderheiten im Zeichen des Diktats
des Sozialistischen Realismus die gesellschaftliche Formierung des Homo Sovieticus des Neuen
Menschen und schließlich - trotz massiver Repression - das Überleben der Religion. Boeckhs
Erzählperspektive ist ähnlich einer Mauerschau: Es ist der Blick des Westlers gleichsam über
die Mauer des Eisernen Vorhangs nach Osten um die Vergangenheit dort aus der zeitgenössischen
Sicht und aus der räumlichen Distanz zu kommentieren.