Hans Reichmann ehemals Syndikus des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens
schildert in seinen Aufzeichnungen aus dem Londoner Exil eindringlich die Verfolgung der
deutschen Juden in den Jahren 1939 bis 1939. Reichmann wurde wie Zehntausende anderer Juden
1938 im Zuge des November-Pogroms der sogenannten Reichskristallnacht verhaftet und in das
Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt. Sein schon im Sommer 1939 niedergeschriebener
Bericht über das Lagersystem und die besonderen körperlichen und seelischen Mißhandlungen an
den jüdischen Häftlingen ist in seiner Unmittelbarkeit ein eindruckvolles und erschütterndes
Dokument deutsch-jüdischer Geschichte unter nationalsozialistischer Herrschaft. Leseprobe: Das
Lachen wird ihnen inzwischen in der Kehle erstickt sein. Das Wort schneidet wie ein Messer. Ein
kleiner Mann rächt sich. Sonderbar! Ein kleiner Mann erschüttert die Welt. Sie zittert vor ihm.
Und ich kann mich noch immer nicht verstehen den kleinenMann groß zu sehen so groß wie ihn
seine Propaganda oder der Haß seiner Feinde macht. Ich weiß was er angerichtet hat ich spüre
die Realität seiner Macht an mir nichts und niemand der solchen Einfluß auf meinen Lebensgang
genommen hätte. Der erste Gedanke wenn ich erwachte und der letzte wenn endlich der Schlaf
kam den mir sein Wüten so selten ließ. Er hat mir alles genommen was ich besaß zweimal den
Beruf Freunde Familie Wohnung und Vermögen er treibt mich aus meinem Vaterland er wird
mich weiter treiben sein Krieg wird mich verfolgen seine Bomben und das Giftgas seiner
Propaganda und doch vermag ich nicht die Persönlichkeit Hitler ernst zu nehmen den
Hysteriker den Judenfresser den rachsüchtigen Bösewicht. Die Welt sieht Genialität und
Dämonie ich sehe nur einen genial-dämonischen Zug: die infernalische Verachtung des Menschen
seines eigenen Volkes dem er schonungslos jede Brutalität jedes Opfer an Gut Gesinnung und
Leben jede Gefolgschaft für Abenteuer Jules Vernescher Phantasie zumutet und mit seinem Terror
aufzwingt. Der Führer hat das Signal aufgenommen daß sein 10.November gellend gegeben hat:
Deutschland muß judenrein werden. Entmachtung Entrechtung Enteignung - jede Forderung so
ungeheuerlich daß kaum die Radikalsten der Radikalen sie auszusprechen wagten. Aber als das
deutsche Volk die Hetzer währen ließ als kein Proteststurm sie hinwegfegte als die
Auslands-Antwort zwar störte aber doch nicht realpolitisch gefährlich wurde da steigerten
sich die Haß- und Vernichtungsgelüste des regierenden Pöbels ins Sinnlos-Maßlose. Und was kein
Nazipogrom je gefordert wurde zur Regierungsparole: Deutschland muß judenrein werden - die
Juden müssen raus! In hundert Abwandlungen tönte sie uns nun entgegen bald mitleidsvoll bald
schadenfroh bald gleichgültig das Unabänderliche feststellend bald haßerfüllt triumphierend.