Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts begegnete Goethes Faust seinem Publikum in der
Schule in den Hörsälen und in der Literatur als Vorbild als tatkräftig-optimistischer Held
der sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Sein rastloses 'Streben' galt als Tugend und seine
Lebensgeschichte als eine exemplarisch gelungene Persönlichkeitsentwicklung als produktive
Weltaneignung als technisch-wissenschaftlicher Fortschritt - kurzum als Glück.Heute 200 Jahre
nach dem Erscheinungsjahr des ersten Teils der Fausttragödie ist es offenkundig daß Goethe in
Fausts Versen das unterdessen global gültige Bewegungsgesetz der Moderne ausgesprochen hat.
Längst verinnerlicht bestimmt dieses Ruheverbot unser alltägliches Verhalten. In der Welt der
rasenden Bildwechsel und der sie begleitenden hetzenden Rhythmen ist jedes Verweilen unmöglich
geworden. Kein Augenblick entgeht mehr der pausenlosen Negation des Gegenwärtigen und dem von
ihr entfachten Bewegungsfuror.Wer von uns Heutigen könnte leugnen daß unsere Zeit im Banne von
Fausts fatalem Ausruf steht: 'Und Fluch vor allen der Geduld!'