Es ist heute schwer vorstellbar dass die Musik von J.S. Bach nach dem Tod des Komponisten für
etwa ein halbes Jahrhundert in Vergessenheit geriet. Seine Nachfolger an der Thomaskirche
bevorzugten einfachere homophone Kompositionen und zu Beginn des 19. Jahrhunderts diente seine
Musik nur noch als Gegenstand akademischer Studien. Der Komponist und Lehrer Carl Friedrich
Zelter schätzte Bachs kontrapunktische Kunstfertigkeit sehr und vermittelte sie seinem Schüler
Felix Mendelssohn der sich bereits im Alter von zwölf Jahren zu einem Meister der Fugenkunst
entwickelte. Zwei Jahre später sollte der junge Felix sein wertvollstes Geschenk erhalten eine
handkopierte Partitur von Bachs Matthäus-Passion. Und mit Zelter an seiner Seite gab er 1829
die erste Aufführung (seit Bachs Tod) mit Interpreten der Berliner Singakademie. Es war ein
ehrgeiziges Unterfangen nicht nur wegen der Komplexität von Bachs Musik sondern auch wegen
der mittlerweile mangelnden Vertrautheit mit der barocken Aufführungspraxis (Größe der
Besetzung Barockinstrumente Verzierungen usw.). Zwölf Jahre vergingen bevor Mendelssohn
erneut den Versuch unternahm die Grosse-Passions-Musik wie er sie nannte aufzuführen -
diesmal im Rahmen einer Bach-Reihe in der Leipziger Thomaskirche. Für diese Aufführung setzte
er eine Reihe von Arien wieder ein die er 1829 gestrichen hatte und überarbeitete die
Secco-Rezitative so dass kein Tasteninstrument erforderlich war. Diese Fassung von 1841
verfolgte immer noch eine kürzere Konzeption des Werks und umfasste etwa zwei Drittel des
Originals womit sie etwa dem Umfang der Johannes-Passion entsprach. Was Mendelssohn hinterließ
als er einige Jahre später starb muss als Fassung in Arbeit gewertet werden an der er sicher
noch weiterzuarbeiten beabsichtigt hatte. Die neue Bärenreiter-Ausgabe kehrt zu Mendelssohns
einzigartiger Vision von Bachs Meisterwerk zurück indem sie zusammenführt und durch den
Herausgeber an einigen Stellen ergänzt was Mendelssohn entworfen hat das Werk in seinem
reduzierten Umfang mit der überarbeiteten Stimme für den Evangelisten (in den
Secco-Rezitativen mit Orchesterbegleitung) mit Klarinetten die die Oboe d'amore ersetzen und
mit einem Umsetzungsvorschlag für die fehlende Continuo-Stimme (die für die Orgel der
Thomas-Kirche begonnen worden war aber unvollendet blieb oder verloren ging). Die neue Ausgabe
zeigt nicht nur Mendelssohns phantasievolle Neuinterpretation des Originals sondern auch die
Vielseitigkeit von Bachs Musik in seinen Händen. In einer Zeit in der Bach fast ausschließlich
von Barockorchestern gespielt wird bietet sie Orchestern die Möglichkeit eines der größten
Werke Bachs aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts aufzuführen.