Zu den gleichermaßen verhängnisvollsten wie für die Regelung des menschlichen Zusammenlebens
unverzichtbaren institutionellen Instrumentarien unserer Zeit gehört Bürokratie. Die Herrschaft
des Büros hat sich endgültig etabliert. Von Beginn an einerseits verteufelt wegen tatsächlicher
oder unterstellter Ineffektivität aufgrund von Schwerfälligkeit Formalismus Übergriffigkeit
Überregulierung und dergleichen mehr ist mit der Herausbildung moderner Staaten und ihren
Massengesellschaften deren Steuerung ohne stetige und verlässliche Verwaltung andererseits
undenkbar geworden. Der damit unentrinnbaren Bürokratisierung der Welt (Henry Jacoby) und
unseres gesamten Alltags sind die individuellen Belange des Einzelnen weitgehend zum Opfer
gefallen. Dieses unauflösbare Dilemma spitzte sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu
agierten die anonymen Verwaltungsapparate doch nun zunehmend nach fest vorgegebenen
Bestimmungen sowie im Prinzip ohne Ansehen der Person und in kühler Sachlichkeit. Das alles
rief die Literatur auf den Plan. Mit ihrer hohen Sensibilität gegenüber gesellschaftlichen
Fehlentwicklungen hin zur Unfreiheit schrieb sie jetzt besonders engagiert und vehement gegen
staatlich-bürokratische Bevormundung an. Kafkas Landvermesser der nicht einmal in die Nähe der
Schlossbehörde gelangt um von ihr Anerkennung zu finden ist da nur das berühmteste aber bei
weitem nicht das einzige dramatische Beispiel für den Kampf zahlloser literarischer Antihelden
mit Behörden und ihren Beamten deren Richtlinien dem Bittsteller nur zu oft schleierhaft
bleiben. Nicht zu vergessen die Staatsdiener die ihren Dienst vollkommen verinnerlicht und
ganz zu leben vergessen haben. Dieser von Axel Dornemann zusammengestellte Reader bietet
erstmals eine repräsentative Auswahl spannender bureaucratic encounters in denen es fast immer
um Leben und Tod geht. 34 Beiträge von 30 internationalen Autoren - Auszüge aus Romanen
abgeschlossene Erzählungen und Essays - umspannen die letzten vier Jahrhunderte und führen bis
in die unmittelbare Gegenwart. Zu den Autoren gehören u.a. Honoré de Balzac Konrad Bayer
Charles Dickens Ernst-Jürgen Dreyer Franz Kafka Heinrich von Kleist Günter Kunert Warlam
Schalamow Lew Tolstoj B. Traven Anton Tschechow David Foster Wallace Max Weber.Das
Lesebuch soll nicht nur Belletristikfreunden ein bislang unbeachtetes Kapitel in der Geschichte
der Sozialrebellion der Literatur näherbringen sondern auch die Sozialwissenschaften auf die
schöne' Literatur als Forschungsressource aufmerksam machen.