Schopenhauer (1788-1860) plädiert in seiner Schrift »Über die Grundlagen der Moral« für einen
deskriptiven und nicht für einen präskriptiven moralphilosophischen Ansatz. Trotz seiner
Wertschätzung für Kant unterzieht er dessen Ethik einer eingehenden Kritik und ersetzt deren
oberstes Prinzip den kategorischen Imperativ durch das Gefühl des Mitleids. In seiner 1839
bei der Dänischen Societät der Wissenschaften eingereichten und 1841 erstmals in dem Band »Die
beiden Grundprobleme der Ethik« veröffentlichten Preisschrift über die Grundlage der Moral legt
Schopenhauer eine Reihe bemerkenswerter Ergänzungen zu seiner Ethik bzw. Metaphysik der Sitten
vor. In keinem anderen seiner Werke setzt er sich so ausführlich mit Kants Ethik auseinander
die er einerseits als bedeutende Leistung würdigt andererseits aber auch einer gründlichen und
- in vielen Punkten - überzeugenden Kritik unterwirft. Ein zentraler Einwand lautet dass der
kategorische Imperativ letzten Endes einem kalkulierten Egoismus entspringe. Damit wäre er kein
formales sondern ein materiales Prinzip und er würde nicht kategorisch sondern allenfalls
hypothetisch gelten. Darüber hinaus weist Schopenhauer die »imperative Form« der Kantischen
Ethik als unangemessen zurück. Nach seiner Auffassung besteht die Aufgabe der Ethik keineswegs
darin Vorschriften aufzustellen nach denen sich die Menschen zu richten hätten sondern
lediglich darin deren Verhalten zu beschreiben und verständlich zu machen. Was seine eigene
Konzeption der Ethik anbelangt so läuft sie darauf hinaus dass das Mitleid die Grundlage der
Moral bildet. Schopenhauer charakterisiert es als ein Gefühl in dem einem Menschen das Leiden
des Anderen ebenso unmittelbar zugänglich ist wie das eigene und das ihn dazu motiviert den
Anderen zum letzten Zweck des Handelns zu machen. Vor diesem Hintergrund entwickelt
Schopenhauer seine eigene Tugendlehre in deren Mittelpunkt die Gerechtigkeit und die
Menschenliebe stehen.