Er ist einer der großen Dichter des jüdischen Wilna und seine Erzählungen bergen Romane: Mit
Chaim Grade (1910-1982) erscheint in der Anderen Bibliothek erstmals einer der bedeutendsten
jiddischen Dichter und Erzähler des 20. Jahrhunderts. In Wilna heute Vilnius im leuchtenden
»Jerusalem des Nordens« wurde Chaim Grade geboren und von dort und der Enge der jüdischen
Dörfer den Schtetlech zwischen den Weltkriegen erzählt er - ohne alle sentimentale
Verklärung. Seine sinnlich-atmosphärischen Darstellungen der untergegangenen jüdischen Welt
entfalten große persönliche und politische Dramen. Die kultivierte Perele Tochter des
gelehrten Rabbis von Staripol ist eine der eindrucksvollsten der vielen Frauengestalten in
Grades Erzählungen: eine raffinierte Xanthippe. Als Erbin rabbinischen Adels will sie ihren
gutmütigen Mann Uri-Zwi Königsberg vom schlichten Prediger zum angesehenen Rabbi befördern -
mit Intrige mit kaltem Kalkül und stummer Unerbittlichkeit. Hinter ihrem Ehrgeiz verbirgt sich
ein peinigendes Lebensgeheimnis. Ob hier in der Erzählung Die Rebbezin oder in Lejbe-Lejsers
Hof: Der in Synagogen Wohnungen oder Geschäften erbittert ausgetragene Streit um die
religiösen Gebote der »Religionskrieg« zwischen Traditionalisten und Erneuerern orthodoxen
Eiferern und zionistischen Freidenkern bestimmt die Existenz aller und ist das große Thema von
Chaim Grades Erzählkunst. Sein poetisches Gespür für die Träume und Sehnsüchte von Frauen in
einer Welt voller Gebote und Verbote lassen ein lebendiges Bild des jüdischen Alltags
entstehen. Auf Lejbe-Lejsers Hof in Wilna sind sie alle vereint: Arbeiter und Handwerker
Fuhrleute Metzger und Markthändler Rabbiner und Asketen. Zu den Feiertagen wogt eine
Menschenmenge in Festtagskleidung durch den Hof und im Bethaus treffen sich die ganz und die
weniger Frommen. Gefangen in ihrer Welt der Vorschriften und Gesetze an denen mitunter auch
die eigenen Frauen irre werden leben in Lejbe-Lejsers Hof der fanatisch gläubige Schlosser
Hiskia mit seinen drei Töchtern der Gärtner Schklar oder der Polsterer Moischele dessen Frau
Nechama den Scheidebrief nicht annehmen will. Familiendramen Skandale Schmerz und Scham - es
braucht die Auslegung der Religionsgesetze. Es braucht den imposanten Rabbi Joel Weintraub und
seine Frau die Rebbezin Hindele. Sie werden gerufen sich wieder einzumischen in die
verworrene jüdische Welt. Chaim Grade weiß viel: Zwischen »es ist verboten« und »es ist
erlaubt« gibt es noch etwas anderes - schlichte Menschlichkeit. Von ihr erzählt er mit großer
Einfühlung in seine Figuren.