Ein ebenso interessanter wie nahezu unbekannter Abschnitt der preußischen und vor allem
ostpreußischen Geschichte wird in diesem bemerkenswerten historischen Sachbuch von Jörg Ulrich
Stange spannend und wissenschaftlich fundiert dargestellt: Das zuvor in einem derartigen Umfang
noch nicht dokumentierte über fünf Jahre währende ungewöhnliche Schicksal Ostpreußens unter
russischer Besatzung im Siebenjährigen Krieg. Der Autor beschreibt wie Friedrich II. sich gegen
seine erklärte Absicht Russland zum Feind machte und weder persönlich willens noch militärisch
in der Lage war seine östlichste Provinz gegen die Russen zu verteidigen. Eine Reihe von
bisher als historisch verbürgt geltender Vorgänge werden in diesem Buch in schlüssiger
Beweisführung anhand der Quellen ins Reich der Irrtümer verwiesen: Nahm Friedrich II. es seinen
Untertanen in Ostpreußen tatsächlich übel dass sie sich der Zarin freiwillig unterwarfen oder
hatte der König andere Motive den Menschen zwischen Weichsel und Memel zu grollen? War es
tatsächlich die Absicht der Zarin Elisabeth Ostpreußen dem Russischen Reich einzuverleiben?
Was geben die Quellen dazu her? Folgte der neue russische Zar aus Holstein Peter III. beim
Abschluss des Friedensvertrages 1762 wirklich blind den Vorgaben Friedrichs II. und machte sich
auf diese Weise zu seinem Vasallen wie häufig behauptet wird? Daraus ergibt sich ein weiterer
vor allem von russischen Historikern verbreiteter Vorwurf gegen Peter III.: Hat der
186-Tage-Zar Ostpreußen ohne Gegenleistung an Friedrich zurückgegeben und die neue
Machtstellung Russlands in Europa dadurch geschwächt? Die Faktenlage wie sie hier ausführlich
dargelegt wird gibt auf diese Fragen quellenbasierte schlüssige aber sicherlich auch
unerwartete Antworten. Aber das neue Buch über Ostpreußen birgt weitere Überraschungen: Der
Autor schildert mit gründlicher Ausführlichkeit die fast unglaublichen Vorgänge einer
Verschwörung im zaristischen Machtzentrum die zum Scheitern des ersten Feldzuges der Russen
1757 geführt haben und die zum Teil bis heute nicht abschließend geklärt werden konnten. In
einem weiteren Kapitel wird anhand der Quellen illustrativ und lebendig dargelegt wie sich das
gesellschaftliche Leben der pietistischen Ostpreußen unter den Russen wandelte. Der Verfasser
geht bei der Prüfung zahlreicher wenig bekannter Tatsachen der Frage nach ob der vereinzelt
verwendete Begriff goldene Russenjahre im Zusammenhang mit der Besatzungspolitik gerechtfertigt
scheint. Schließlich wird das Problem des 1762 bevorstehenden Krieges Dänemark gegen Russland
multiperspektivisch untersucht die Schlüsselstellung die Ostpreußen dabei einnimmt
ausführlich beleuchtet und der gängigen monokausalen Erklärung zulasten Peters III. werden
alternative Fakten gegenübergestellt. Nach langer Zeit endlich wieder eine Buchveröffentlichung
die wirklich etwas Neues über das untergegangene Ostpreußen zu bieten hat. Eine ergiebige
Studie mit umfangreichem Quellenanhang die weder in Bibliotheken noch in historischen
Forschungseinrichtungen fehlen darf an der sich aber vor allem die geschichtlich interessierte
Leserschaft erfreuen wird.