Diese auf 20 Bände angelegte Edition geht auf eine viel beachtete öffentliche Vorlesungsreihe
zurück die Professor Michael Bockemühl Anfang der 1990er Jahren im Saalbau Witten hielt. In
seinen Diavorträgen nimmt der Redner gemäß seinem Credo: Der Künstler ermöglicht was der
Anschauende verwirklicht sein Publikum gleichsam bei der Hand und führt es zu den einzelnen
Kunstwerken hin. Dabei werden weder Spekulationen über ihre möglichen Bedeutungen angestellt
noch abstrakte Theorien über das Sehen geschmiedet vielmehr feiert der Autor ein Fest für das
Auge: Mit Witz und methodischer Konsequenz versteht es der passionierte Wahrnehmungsforscher
die Aufmerksamkeit auf die durch nichts anderes als durch das Kunstwerk eröffneten
Anschauungsmöglichkeiten zu lenken.Die Bände werden herausgegeben von Dr. phil. David Hornemann
v. Laer (Fakultät für Kulturreflexion Studium fundamentale) in Zusammenarbeit mit Birgit
Bockemühl sowie Studierenden an der Universität Witten Herdecke.Band 16: Michelangelo
-Friedrich Nietzsche zufolge werden wir nicht als Seher:innen geboren. Die Ausbildung des
Sehsinns hänge vielmehr gleich von mehreren Faktoren ab: Sehen lernen - dem Auge die Ruhe die
Geduld das An-sich-herankommen-Lassen angewöhnen das Urteil hinausschieben den Einzelfall
von allen Seiten umgehn und umfassen lernen. Sehen bedarf demnach der Ruhe Geduld und Nähe
sowie der Bereitschaft die Perspektiven zu wechseln und (Vor-)Urteile zurückzuhalten. Ein
erfrischendes Beispiel wie das gelingen kann finden wir in Michael Bockemühls Vorlesung zu
Michelangelo dem wohl wirkmächtigste[n] Künstler der Menschheit. Der Kunstwissenschaftler der
sich ein Leben lang mit dem florentinischen Bildhauer Maler Baumeister und Dichter
auseinandergesetzt hat möchte keine weiteren Interpretationen zu dessen Werken anstellen
sondern sich ihnen über die Augen nähern. So heißt es in seiner Vorlesung: Was ich hier
versuche ist ja auch nur ein Ansatz eine Bemühung die auf die Frage abzielt wie wir so
etwas ansehen können - nicht nur was sich darüber sagen lässt. Doch was sollte so
außergewöhnlich daran sein zu zeigen wie die Werke Michelangelos angeschaut werden können?Bei
der Kunstbetrachtung haben wir es mit einem Vorgang zu tun der mit größten Glücksmomenten
aufregenden neuen Perspektiven und neuen Horizonten aber auchmit enormen Anstrengungen und
existenziellen Herausforderungen verknüpft ist. Die Augen für ein Kunstwerk öffnen sich nur
dann wenn anstelle der interpretationsvermittelten Bedeutung die eigene Seherfahrung in den
Mittelpunkt rückt: Wie ist eine Sache gestaltet? Wie tritt sie in Erscheinung? Wie spricht sie
mich an? Wie erschließt sie sich mir? Dementsprechend sucht der Wahrnehmungsforscher von der
Universität Witten Herdecke in seiner Vorlesung zu Michelangelo mit seinem Publikum ein anderes
Sehverhalten eine Umwendung der Sehgewohnheiten einzuüben und es auf andere
Bewusstseinsvollzüge beim Sehen aufmerksam zu machen. Dabei lenkt er den Blick nicht nur auf
die Kunstwerke sondern auch auf uns selbst als Betrachtende. Wir erfahren wie wir an der
bleibenden durch den Stein festgehaltenen Form in eine spezifische Bewegung kommen können die
die so und nicht anders gestalteten Skulpturen vorgeben.Wir können an Michelangelos Werk eine
Entwicklung von der perfekten zur offenen Form beobachten. Wir sehen eine vollendete und eine
sogenannte unvollendete Figur. Sie treten verschieden auf. Und in dieser Verschiedenheit werden
wir beobachten wie Michelangelo selbst das Verhältnis zum Stein im Laufe seiner unglaublich
langen und reichen künstlerischen Laufbahn neu prägt neu gestaltet neu entdeckt - auch für
unser heutiges Sehen. - Michael Bockemühl