In Natascha Gangls Aufrufen und Einsprüchen Litaneien und Beschwörungen treten Wörter
gleichsam als Lebewesen auf die über die Zunge die Lippen den Atem ins Freie gelangen.
FRISCHE APPELLE versammelt Vortragstexte die aus der sinnlichen Qualität von Klang Intonation
und Rhythmus ihre volle Bedeutung entfalten. Hier wird das Hörereignis als einmalige Erfahrung
im Jetzt ins Recht gesetzt. Die Autorin lehrt uns mit den Ohren zu sehen. Poesie wird als
leib-basierte Erfahrung evident thematisch insbesondere in Gangls Hommagen an transgressive
Künstler:innen wie Unica Zürn Roberto Matta oder Anestis Logothetis. Die Artikulation von
Lauten und Wörtern im Mundraum erscheint als Analogon zum Entstehungsprozess von Welt. Die
darin herr- schenden skandalösen Sprachverwendungen (Verhör Anzeige Richterspruch u.a.)
nimmt die Autorin mittels virtuosem "Ver- hören" und anderer Manipulationen aufs Korn. Wenn der
"Lauf der Dinge" in der Vorstellung eines Gewehrlaufs mündet oder "Sesshaft die" als
weibliches Hauptwort eingeführt wird treten gesellschaftliche Verhältnisse handgreiflich zu
Tage. Im Zulassen freier Assoziation und kraft akustischer Entfesselung formt Natascha Gangl
ein Modell anarchischer Gegenläufigkeit. FRISCHE APPELLE sind laut zu lesen: als Intervention
in das Bestehende und als beherzter Aufruf zum Miteinander.